Amoklauf Winnenden

Weiterleben mit dem Schmerz

Amoklauf Winnenden - 10 Jahre danach_0
Der Art, wie sie einander zuhören, einander zugewandt sind, ist anzuspüren: Sie schätzen einander und helfen einander. Doris Kleisch, Barbara Nalepa und Birgit Schweitzer. Die Bilder entstanden in den Büroräumen ihres Waiblinger Anwaltes Jens Rabe. © ZVW/Benjamin Büttner

Der 11. März ist nicht Vergangenheit, sein Schatten bleibt: Ein Gespräch mit Barbara Nalepa, Doris und Dieter Kleisch, Birgit und Thomas Schweitzer über die verlorenen Kinder, alltägliche Überlebensstrategien und bis heute offene Fragen.

Jahrestag - Wenn der Film abläuft

Das Leben geht weiter, die Zeit heilt Wunden: dürre Klischees. Natürlich geht das Leben weiter, essen und trinken, wachen und schlafen, lachen und schimpfen, arbeiten und ausruhen, und über Wunden bildet sich Schorf. Aber darunter wächst eine Narbe, und in ihr pocht der Schmerz.

Ihnen gehe es „soweit okay“, sagen Doris und Dieter Kleisch, die Eltern von Stefanie. „Berg und Tal im Großen und Ganzen.“ Aber der Alltag erwischt dich doch immer wieder auf dem falschen Fuß. Du betreust eine Praktikantin im Betrieb und ertappst dich beim Gedanken: „In dem Alter wäre unsere Tochter jetzt.“ Welche Schritte – Liebeskummer, Liebesglück, Zukunftssorgen, Zukunftspläne – wäre sie gegangen? „Das treibt dich schon ständig um.“

Selina hat so gerne „geschettert und gelacht! Ich verliere immer mehr ihre Stimme“, sagt ihre Mutter Birgit Schweitzer. „Ich höre sie nicht mehr.“ Es gibt Videos von ihr, „aber die kann ich nicht anschauen“. Den zehnten Jahrestag gilt es zu überstehen wie die neun zuvor. Der Tag rückt näher, spätestens „sechs Wochen davor kannst du mich in der Pfeife rauchen“, wieder und wieder „läuft der ganze Film ab“ – danach kippt „ein Schalter“, das Leben geht weiter.

Opfereltern Amoklauf Winnenden
Birgit Schweitzer erzählt, Doris Kleisch und Barbara Nalepa hören zu. © ZVW/Benjamin Büttner

Die Trauer ist ein unberechenbarer Streuner: Manchmal lässt sie sich tagelang nicht blicken, als habe sie sich aus dem Staub gemacht; bis sie unangekündigt wieder an die Türe klopft. Neulich erwachte Thomas Schweitzer schweißgebadet aus einem Traum, der 11. März hatte sich darin entrollt in allen Details. „An dem Tag konntest du mich wegwerfen.“

Der Verlust: „Ich habe gelernt, damit umzugehen“, sagt Barbara Nalepa, die Mutter von Nicole. „Es ist nicht einfach.“

Dünnes Eis - Elternsorgen

Mit 15 oder 16 ging Dieter Kleisch erstmals allein in Urlaub; er trampte. Die Welt entdecken, den Wind um die Nase spüren! Seine Eltern mögen sich Sorgen gemacht haben, das ist ihm heute schon klar – aber damals? „Meistens hab ich’s denen ja nicht gesagt“, was er so alles erlebte an Abenteuern.

Opfereltern Amoklauf Winnenden
Dieter Kleisch. © ZVW/Benjamin Büttner

Eine der schwersten Elternkünste: da sein für die Kinder – und ihnen Luft zum Atmen lassen; sie umhüten mit der eigenen Lebenserfahrung – und ihnen Raum gewähren, selber Erfahrungen zu sammeln; sie vor Irrtümern bewahren – und ihnen Gelegenheit zu Irrtümern geben, aus denen sie lernen können; Geborgenheit – und Freiheit. Es ist nicht leicht, diese Balance zu meistern nach einer Erschütterung, die alles untergräbt: Die Kinder gehen zur Schule und kehren nicht zurück. Dass Eltern, die früher entspannt waren, weil sie wussten, sie konnten ihren Kindern vertrauen, heute wach liegen, wenn ein Sohn, eine Tochter abends unterwegs ist: Auch das gehört zum Leben nach dem 11. März.

Was damals geschah, „hat die Familie so zusammengeschweißt, dass jeder aufeinander aufpasst“, erzählt Birgit Schweitzer. Ihre älteste Tochter ist längst erwachsen – und doch ist es beruhigend, dass es eine App gibt, die anzeigt, wo der geliebte Mensch sich gerade befindet.

Michele Nalepa ist jetzt etwa so alt wie Nicole vor zehn Jahren; die kleine Schwester geht heute in die 10. Klasse: an der Albertville-Realschule. Auch Nicoles Bruder Sebastian lernt dort. Die beiden wollten es so. Vielleicht ist es für sie ein Weg, der älteren Schwester nahe zu bleiben, ein Stück Biografie mit ihr zu teilen. Michele ist Mitglied der Schulband, am zehnten Jahrestag möchte sie singen. Sie sind dort „sehr gut aufgehoben, die Schule kümmert sich wirklich um die Kinder“, erzählt die Mutter.

Aber das Eis ist dünn. Jüngst im Oktober: Eine Patientin in der Winnender Psychiatrie wollte einen Mann mit einer Waffe gesehen haben. Polizei rückte aus, „ich habe den Hubschrauber gehört“, alles war wieder da: die marternde Ungewissheit, die wahnsinnige Sorge.

Irgendwann rief Michele an: Mama, uns geht es gut. Fehlalarm.

Was hilft - Vom Umgang mit Trauernden

Sie waren eine Schicksalsgemeinschaft: Wenn die Nalepas, Schweitzers, Kleischs und andere in den Monaten nach der Tat in kleinen oder größeren Runden beisammen saßen, trugen sie einander. Hier konnte, wer den Aufruhr in sich kochen fühlte, aufstampfen, schreien, „sich auskotzen“, alles rauslassen, auch diesen „massiven Zorn“, diese „Stinkwut“, diese ohnmächtigen Rachegefühle, und musste niemandem irgendwas erklären, denn alle verstanden. „Mal ging der eine durch die Decke, mal der andere“, erinnert sich Dieter Kleisch – danach „haben wir uns gegenseitig wieder eingenordet“. Das tat gut.

Manchmal half ein Therapeut: Seiner, erzählt Thomas Schweitzer, habe ihn „rausgeholt aus dem Tal“, wieder „auf den Weg gesetzt“ und gesagt, „hier kannst du weitergehen“. Manchmal hilft eine Frage: Mensch, Birgit, was würde Selina dazu sagen, dass du so Trauer trägst, „sie war fröhlich, sie war lustig, jedes Fest, das gekommen ist, hat sie mitnehmen müssen!“ Manchmal hilft die Erfahrung: Wenn die Trauer anflutet, „musst du die Sache über dich ergehen lassen“, hat Birgit Schweitzer gelernt, „wenn es dir schlecht geht, lass es laufen“ und warte, bis es besser wird.

Opfereltern Amoklauf Winnenden
Thomas Schweitzer. © ZVW/Benjamin Büttner

Es hilft, wenn „andere für einen da sind“, sagt Doris Kleisch. Manchmal, weiß Thomas Schweitzer, „reicht schon ein Blick“.

„Öfters“, erzählt Birgit Schweitzer, „fragen mich Leute: Wie soll ich mich verhalten“ gegenüber Trauernden? Die Antwort: Geh einfach hin! „Bring einen Wurstsalat mit“, klopf an – und falls du ungelegen kommst, wird man es dir schon sagen.

Manchmal sei sie „richtig ungerecht“ gewesen. Da ist ein Besucher, du spürst seine besorgten Blicke, er will in dir lesen, wie es dir geht – und du fährst aus der Haut: „Hör auf, mich die ganze Zeit anzuschauen!“ Umso wohler tut es, wenn eine Freundin anruft und sagt: „Wenn du nicht reden willst, leg auf, und wenn dir was nicht passt, beschimpf mich – dann ruf ich eben morgen wieder an.“

Aber auch das bleibt wahr: Letztlich „muss man alleine durchkommen“, sagt Barbara Nalepa, „jeder trauert auf seine Art“, erklärt Birgit Schweizer, „und keiner kann vom anderen erwarten, dass er genauso trauert.“ Der eine kann gerade nicht aufhören, darüber zu reden, der andere will gerade dringend darüber schweigen, der eine hat eine gute Woche, der andere hängt kopfunter im schwarzen Loch: Die Ungleichzeitigkeit der Trauerrhythmen kann selbst liebende Partner manchmal an Grenzen führen – oh Gott, ich ertrage es nicht, zuzuschauen, wie mein Lebensmensch leidet! Hör auf, du ziehst mich mit runter!

Offene Fragen - Und tiefe Enttäuschungen

Steffi, die sich so engagiert für die SMV ins Zeug legte, Nicole, die so gerne und schön sang, Selina, die leidenschaftliche Fußballspielerin: Sie waren beste Freundinnen. Es gibt ein Foto von einer Klassenfahrt, sie stehen beisammen vor dem Brandenburger Tor, die Gegenwart leuchtet, die Zukunft ist sperrangelweit offen.

Warum sie? Hat der Mörder planvoll auf Mädchen geschossen? Er habe, heißt es, auch auf andere Jugendliche gezielt – und nicht abgedrückt. Andererseits: Polizeiliche Rekonstruktionen des Tatablaufs legen nahe, dass der Amoktäter, wenn er ein Klassenzimmer betrat, vielleicht doch einfach die Kinder tötete, die der Tür am nächsten saßen. Es bleibt „ein dickes Fragezeichen“, bis heute, sagt Dieter Kleisch.

Der Strafprozess gegen Jörg K. wegen fahrlässiger Tötung – er hatte die Tatwaffe Waffe nebst Munition frei herumliegen lassen – war „ein wichtiger Teil der Aufarbeitung“, sagt Kleisch. Es war eine große Leistung der Eltern, dass sie mit einer Stimme und letztlich erfolgreich um diesen Prozess kämpften, den die Staatsanwaltschaft erst gar nicht führen wollte. An vielen Verhandlungstagen wurden Vorgeschichte und Ablauf des Massenmordes gründlich ausgeleuchtet. Das war wichtig: Es hilft in der Trauer, wenn man wenigstens weiß, was geschehen ist.

Eine Hoffnung aber hat dieses Gerichtsverfahren nicht im entferntesten erfüllt: Vielleicht, so dachten manche, könnte es heilsam, könnte es hilfreich sein, wenn die Eltern des Amokläufers sich öffnen, wenn der Vater redet, die Mutter in den Zeugenstand tritt . . . Der Vater schwieg, die Mutter blieb ein Phantom. Nur die Anwälte der Familie sprachen: nannten die Verhängung einer Strafe für Jörg K. „offensichtlich verfehlt“, schwadronierten von einem „Unrechtsurteil“ und schwärmten, als der Prozess wegen eines Formfehlers noch einmal aufgerollt werden musste, sagenhaft taktlos von neuem „Spiel“ und neuem „Glück“.

Kein Kind kommt doch als Mörder zur Welt! Was muss in dieser Familie alles verpasst worden sein? Wie konnten sie, wo Tim doch erkennbar psychische Probleme hatten, all das Tötungswerkzeug offen liegenlassen? Wie konnten sie danach einfach mauern und sich wegducken? Diese Enttäuschung gärt weiter bis heute. „Ich kann ihnen nicht vergeben“, sagt jemand in der Runde, und niemand widerspricht.

Barbara Nalepa erzählt von einem nächtlichen Traum – Familie K. saß beisammen, zwischen den Eltern der Sohn, und jemand sagte: Frau Nalepa, haben Sie eine Frage? Ja, antwortet sie, „an Tim: Wie hast du dich gefühlt, als du meine Tochter umgebracht hast?“ Er schaute auf und lachte, und Barbara Nalepa wachte auf.

Anfänge - Zukunftsbilder

Noch jemand wollte eigentlich zu diesem Zeitungsgespräch kommen: die mittlerweile erwachsene Schwester eines Mädchens, das am 11. März erschossen wurde. Aber sie musste dann doch absagen – eine Terminkollision: Schwangerschaftsgymnastik. Das Leben geht weiter, und das ist schön.

Manchmal, sagt Barbara Nalepa, denke sie daran, wegzugehen mit ihrem Mann, eines Tages, wenn die Zeit der Rente gekommen ist und die Kinder aus dem Haus sind: fort aus dieser Gegend, wo auf jede Straße, jede Wand die Erinnerung gestempelt ist, fort von hier, wo du keinen Schritt tun kannst, ohne daran zu denken, was geschah; ein Häuschen im Schwarzwald, ganz weit weg von allen Menschen. Und endlich Ruhe finden.

Verdienstvoll

Familien von Ermordeten haben nach dem Amoklauf sehr früh öffentlich die Stimme erhoben. Sie trugen damit dazu bei, dass es zu einem Gerichtsprozess kam, und stießen wichtige Debatten über das Waffenrecht, Formen des Gedenkens und viele wichtige gesellschaftliche Fragen an. Dieser Mut, sich zu äußern, hat sich als äußerst verdienstvoll und hilfreich für das Gemeinwesen entpuppt.