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Pflegeeltern Unser ukrainisches Baby und der tägliche Kampf mit deutschen Behörden

Pflegeeltern spielen mit ihrem kleinen Sohn
Der Traum vom Kind – für viele Pflegeeltern ein von deutschen Behörden gemachter Albtraum (Symbolfoto). Die Pflegemutter, die hier erzählt, hat sich entschieden, ihre Geschichte zum Schutz ihres Pflegekinds anonym zu teilen
© Adobe Stock
Wer ein ausländisches Kind aufnimmt, hat jede Hilfe verdient – oder? Leider falsch, erzählt eine Pflegemutter.

Bloß kein Kind ohne Pass! Das war die eine Forderung, die meine Frau und ich ans Jugendamt gestellt haben, bevor unser Pflegesohn vor drei Monaten in unsere Familie kam. Wir sind bereits zweifache Pflegeeltern, haben viel Erfahrung. Deshalb wussten wir um die bürokratischen Probleme, die bei ausländischen Pflegekindern häufig auftreten. Als wir unseren Sohn zum ersten Mal sahen, wurde uns vom Jugendamt mitgeteilt, dass die Passangelegenheiten geklärt seien. 

Aber es war dann doch ein Kind ohne Pass. Natürlich hätten wir in dem Moment sagen können, dass wir ihn nicht wollen. Aber da hatten wir diesen kleinen Wurm schon längst im Arm gehalten, seine verschreckten und gleichzeitig ruhigen Augen hatten sich in unser Herz gestohlen. Da war dieses Kind, das sich anfangs so versteift und ängstlich an uns drückte, schon ruhig und zufrieden geworden, einfach, weil wir bei ihm waren. So eine unfassbare Genügsamkeit hatten wir noch bei keinem Kind erlebt. Da wirken die Probleme mit dem Pass verschwindend gering im Vergleich zu der großen Liebe, die man empfindet.

Frust vieler Pflegeeltern: "Wir verbringen unsere Tage damit, Behörden anzurufen"

Heute sind diese leisen Bedenken zu lauten Sorgen gewachsen. Im Bürokratiestaat Deutschland gibt es für alles eine Regelung, aber keinen festen Weg, wie ein ausländisches Pflegekind ohne Pass eine Identität erhält. Die biologische Mutter floh vor dem Krieg in der Ukraine und hat das Kind in Deutschland zur Welt gebracht. Ob sie in Deutschland bleibt, ist noch unklar. Was klar ist: Sie kann sich hier nicht ausreichend kümmern, der Kleine ist deshalb zur dauerhaften Pflege bei uns. Unser Sohn ist in Deutschland geboren, hat eine deutsche Geburtsurkunde – aber keinen Pass. 

Wir versuchen deshalb erst einmal, die ukrainische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Dafür braucht unser Kind eine sogenannte Apostille, eine beglaubigte Abschrift der deutschen Geburtsurkunde, die wir beim ukrainischen Konsulat einreichen müssen. Apostille-Behörden sind beispielsweise das Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten sowie in jedem Bundesland weitere Ausländerbehörden. Welche Behörde oder welches Amt uns diese allerdings ausstellen soll, ist nicht klar geregelt. Ob sie diese ausstellen, ist in jedem Bundesland, in jeder Kommune und Gemeinde anders geregelt. Für uns heißt das: Seit Monaten bestehen unsere Tage daraus, mit eventuell zuständigen Behörden zu telefonieren und die Abende, E-Mails an Ausländerbehörden in ganz Deutschland zu versenden. Nur um dann am nächsten Tag zu erfahren, dass man wieder keinen Schritt weitergekommen ist und wieder von vorne beginnt. Niemand sieht sich verantwortlich, uns eine beglaubigte Abschrift auszustellen. Stattdessen schieben sich die Ämter die Zuständigkeiten hin und her.

Ohne Pass kann unser Sohn nicht reisen, keinen Schulausflug machen, kein Konto eröffnen.

Unser Pflegesohn lebt derzeit mit einer Fiktionsbescheinigung, also einem vorübergehenden Aufenthaltstitel, der am 23. September abläuft. Danach müssen wir uns um einen neuen bemühen, der wieder wenige Monate gültig ist. Es ist frustrierend zu merken, dass das System vorsieht, Kinder unterzubringen, aber nicht zu Ende denkt, was das bedeutet: Unser Pflegesohn darf ohne Pass nicht verreisen, wir können Deutschland also bis auf Weiteres nicht verlassen und keinen Urlaub machen. Mit seinem jetzigen Status kann unser Sohn später keinen Schulausflug machen, kein Bankkonto eröffnen, auch eine Ausbildung zu absolvieren, würde erheblich verkompliziert. Er könnte nicht heiraten und auch seine eigenen Kinder wären im schlimmsten Fall staatenlos. 

Das Jugendamt versucht uns bestmöglich zu helfen – aber auch hier ist man hilflos. Am Ende stehen wir immer wieder vor demselben Problem: Dass die Ausländerbehörde das Jugendamt hängen lasst. Dass die Ausländerbehörde uns und unser Kind hängen lässt. 

So wie uns geht es vielen Pflegeeltern ausländischer Pflegekinder. Für viele identitätsbestimmende Entscheidungen gibt es keine einheitlichen Regelungen, dann dürfen Beamte nach eigenem Ermessen entscheiden, ob ein in Deutschland geborenes ausländisches Pflegekind einen Pass bekommt. Manche Pflegeeltern kämpfen seit Jahren um eine Geburtsurkunde oder die Staatsbürgerschaft für ihr Kind. Diese Kinder sind in Deutschland geboren, kennen nur dieses Land, diese Sprache, diese Kultur. Bekommen sie keinen deutschen Pass, droht ihnen im Erwachsenenalter womöglich die Abschiebung in ein ihnen fremdes Land.

Gemeinsam mit 80 anderen Pflegeeltern kommt viel Expertise zusammen.

Mittlerweile haben wir uns mit etwa 80 anderen Pflegeeltern in einer Facebookgruppe zusammengeschlossen, in der wir Informationen, Erfahrungen und Kontakte austauschen. Durch hunderte von Mails mit Paragrafen, Fallbeispielen und Erfahrungsberichten, die wir als Gruppe gesammelt haben, ist eine gewisse Expertise entstanden. Dieses Problem betrifft Pflegekinder aus EU-Staaten genauso wie solche aus Drittländern. Manche kämpfen seit Jahren um Geburtsurkunden, Apostillen oder Pässe, sind Experten in Gebieten geworden, die eigentlich gar nicht zu ihrem Job gehören: Pflegeeltern sein. 

Viele Pflegefamilien trauen sich nicht, sich durch den schwierigen Weg der Identitätsklärung zu kämpfen. Sie haben Angst, die Kinder könnten wieder aus den Familien genommen werden, weil sie zu ungemütlich sind. Manche kapitulieren irgendwann. Und das, obwohl die Vermittlung der Kinder in Pflegefamilien fast immer das primäre Ziel ist – eine Heimunterbringung ist viel teurer. Pflegefamilien werden verzweifelt gesucht, gleichzeitig macht man uns ihre Arbeit unfassbar schwer.

Ich wünsche mir, dass die Probleme von der Politik endlich gesehen und thematisiert werden. Dass diese Kinder endlich eine Identität bekommen. Wir brauchen eine Vereinheitlichung bei Passangelegenheiten, eine klare Regelung, wie wir Pflegeeltern mit solchen Fällen umgehen sollen. Diese Kinder haben keine Lobby. Aber sie brauchen eine.

Unser Pflegesohn kann inzwischen so lachen, wie es Einjährige normalerweise tun. Legen wir ihn mit einem Spielzeug in sein Bettchen, dann brabbelt er zufrieden vor sich hin und beschäftigt sich mit sich selbst. Wenn er weint, dann sind seine beiden großen Schwestern für ihn da und trösten ihn. Und die Nächte schläft er durch, als würde sein Körper sich die Ruhe zurückholen, die er so lange nicht hatte.

Diese Ruhe würden wir uns auch für uns als Familie wünschen. Wir träumen davon, nicht jeden Tag endlos Mails schreiben und Telefonate führen zu müssen, sondern die Zeit gemeinsam als Familie genießen könnten. Vielleicht im nächsten Jahr einmal alle zusammen innerhalb der EU zu verreisen. 

Dieses Kind hat eine Zukunft verdient.

Ich habe besonders Angst vor den anstehenden Bundestagswahlen. Nach den Wahlergebnissen aus Sachsen und Thüringen will ich mir gar nicht vorstellen, was das für die Aufenthaltsrechte unseres Pflegesohnes und unsere Familie bedeuten könnte. Wir verlangen nicht das Unmögliche, sondern nur, dass sich sein Status klärt und er das Recht bekommt, das ihm zusteht.

Dieses Kind hat eine Zukunft verdient. Es kann nichts dafür, dass seine leiblichen Eltern nicht dazu in der Lage sind, sich um seine Passangelegenheiten zu kümmern. Es ist nicht schuld daran, dass sich Bürokratie und Politik so uneins sind. Auch dieses Kind hat ein Recht auf eine Identität, sei es die deutsche oder die ukrainische. 

Anmerkung: Auf Nachfrage des stern haben sowohl das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) als auch das Amt für Auswärtige Angelegenheiten angegeben, dass sie in diesen Angelegenheiten keine Auskunft geben könnten, da sie sich als nicht zuständig sähen. Das BaMF verwies auf das Amt für Auswärtige Angelegenheiten. Dieses wiederum sieht die Verantwortlichkeit bei den einzelnen Ländern: "Die Zuständigkeit der jeweiligen Inlandsbehörde ist Ländersache", schreibt das Amt in einer Mail. Auf die Frage nach einer geplanten Vereinheitlichung der Passangelegenheiten erhielten wir keine Antwort.

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