Der stillen Mitte Gehör schenken (Bautzener Rede 2024)
Bereits seit Jahrhunderten steht der Dom St. Petri in Bautzen für Verständigung und Miteinander. Die Initiative »Bautzen gemeinsam« veranstaltet hier regelmäßig die »Bautzener Reden«, die der Ostbeauftragte der Bundesregierung mit dem Engagement-Preis »machen! 2023« ausgezeichnet hat. Ihre Vision ist es, ein positives und vielfältiges Wir-Gefühl zu stärken. Im März 2024 sprach Sozialministerin Petra Köpping über das Thema »Damit die Wut uns nicht zerreißt: Wer hält die Gesellschaft zusammen?«.
Auszüge aus der Rede
Wenn ich mit Menschen ins Gespräch komme, dann erlebe und beobachte ich seit langem drei Dinge. Erstens: Die Menschen sind erschöpft. Erschöpft von einem Strom von stetig schlechten Nachrichten. In einer Zeit, wo alles problematisch scheint. Zweitens: Sie sind verunsichert. Denn der Berg an Problemen wird scheinbar immer größer. Da ist die Nebenkostenabrechnung, die am Ende des Jahres kommt. Da gibt es so manche Politikentscheidungen, die schlecht erklärt sind. Und da kommen WhatsApp Nachrichten oder Kommentare über Facebook, wie katastrophal alles wäre. Denn gute Nachrichten. Erfolge. Etwas das gut läuft: Das wird ja selten geteilt. Drittens: Die Menschen ziehen sich zurück. Viele haben inzwischen den Eindruck, dass man nichts mehr sagen darf. Aber nicht in der Form, wie es gern behauptet wird. Nicht aufgrund von Verboten. Sondern weil eine differenzierte Meinung keine Rolle mehr in der Öffentlichkeit zu spielen scheint.
Ich habe schon einmal eine so grundsätzliche Rede gehalten wie heute hier in Bautzen. Nämlich vor sieben Jahren in Leipzig. Damals habe ich die Ungerechtigkeiten und Kränkungen der Nachwendedebatte in den Mittelpunkt der politischen Debatte gesetzt. Und schon damals war mir klar: Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten. Mit vielen Krisen und ‚komplexen Herausforderungen‘ – wie das immer so schön heißt.
Und warum sind gerade wir hier so sensibel? All diese Krisen und Konflikte sind bei uns hier im Osten besonders durch die Nachwendzeit geprägt: Das Gefühl der Unsicherheit trifft im Osten Deutschlands auf ein Grundgefühl einer entsicherten Gesellschaft. Insgesamt stehen wir im Osten noch immer auf wackeligerem Boden als etwa in West- oder Süddeutschland. Wenn die Preise steigen, dann trifft das den Osten besonders hart: Denn die Einkommen im Osten sind immer noch geringer als im Westen. Zudem haben die Menschen in Ostdeutschland weniger Vermögen in der Hinterhand. Das fördert die Unsicherheit. Da tut die Nebenkostennachrechnung über ein paar Hundert Euro richtig weh. Zwar ist die Massenarbeitslosigkeit der Nachwendezeit überwunden, doch nun trifft der Fachkräftemangel den Osten besonders scharf: als direkte Folge der Nachwendezeit, als gerade viele junge Menschen in den Westen gingen. Im Übrigen besonders junge Frauen. Die heute fehlen. Und deren Kinder. Es ist doch auch so: Vielleicht das erste Mal in den letzten 30 Jahren kam wenigstens im privaten Bereich das Gefühl auf, dass so etwas wie Ruhe und Stabilität bei uns ankommt. Dass man etwas geschafft hat. Dass es besser wird. Und zugleich folgte Krise auf Krise. Und es soll sich wieder alles verändern. Kein Wunder, dass viele im Osten müde von diesem grundlegenden Wandel sind. Sachsen hat gerade etwas aufgebaut. Aber für viele scheint der in letzten 30 Jahren im Osten hart erarbeitete kleinere oder größere Wohlstand in Gefahr.
In den letzten Jahren ist es etwas hinzugekommen. Wenn ich mit den Leuten spreche, dann höre ich: Viele Menschen haben den Eindruck, dass man nichts mehr sagen darf. Aber nicht in der Form von Verboten, wie es gern behauptet wird. Sondern weil eine differenzierte Meinung keine Rolle mehr in der Öffentlichkeit zu spielen scheint. Traut man sich damit raus, bekommt man von einer ‚extremen‘ Seite erstmal einen drauf. Wenn man Pech hat, gleich noch von der anderen Seite. Vielleicht ist das dann eigentlich ein Zeichen, dass man nicht ganz falsch liegt. Aber das Schlimme ist doch, dass es eine gewisse Besserwisserei und Aggressivität von lauten Rändern gibt, die viele von uns stumm macht. Nicht wenige Menschen fühlen sich in eine Spaltung und in eine radikale Haltung gezwungen, um im Gespräch zu bleiben und nicht ausgegrenzt zu werden. Langfristig richtet diese Form der Debatte unglaublichen Schaden an. Das können wir heute schon beobachten. Wann fing das an, dass man einander permanent bewertet und beschuldigt? Alles scheint politisch empörend, selbst die einfachsten Dinge, die eigentlich nicht politisch sind. Die Folge ist aber: Viele Menschen sind frustriert. Davon wie öffentliche Diskurse geführt werden und wie dort miteinander umgegangen wird. Und das Ergebnis: sie ziehen sich zurück.
Wenn ich mit den Menschen ins Gespräch über die jüngsten Krisen komme, wissen Sie was dann passiert? Dann hauen sie mir zunächst Meinungen und Zuspitzungen um die Ohren. Auch mit Kraftausdrücken. Nicht immer fair. Nicht immer sachlich. Aber wenn man über diesen Punkt hinausgeht, und das tue ich, dann wird klar: Wir – die wir gar kein Interesse an einer Spaltung haben, sind uns alle näher, als wir auf den ersten Blick meinen. Ja, nicht wenige Menschen in Sachsen sind richtig radikal. Sie haben sich einem Verschwörungsglauben ergeben, hassen, sind bereit zur Gewalt und zur Abwicklung der Demokratie. Doch die meisten Menschen sind es nicht, sie sind nicht radikal: Doch das zu sehen, dafür müssen wir uns erst mal für den anderen interessieren, warum der oder die andere eine andere Position hat. Dann lohnt sich der Streit in der Sache. Und dann ist diese Diskussion wertvoll und hilft uns allen. Außer. Ja außer, wenn man dann sieht, der oder die gegenüber stellt wirklich die Menschenwürde in Frage. Da ist nicht nur Wut auf irgendwas. Oder wenn man merkt, dass der andere wirklich im Verschwörungsglauben abgedriftet ist, auch nach der dritten Nachfrage. Dann kann man auch sagen: Der oder die stellt sich selbst an den Rand der Gesellschaft. Diese Person gibt selbst den Wunsch nach sachlichem Dialog auf. Und mit dem rede und streite ich dann auch nicht mehr.
In der öffentlichen Debatte wird mit Reizworten um sich gehauen und die öffentliche Provokation gesucht. Das Problem sind die Reizworte oder Triggerpunkte, wie sie der Soziologe Steffen Mau nennt. Wir kennen sie alle: Das Lastenfahrrad, der SUV-Fahrer, das Gendersternchen, das vegane Schnitzel. Genau diese Reizworte führen dazu, dass eine sachliche Debatte in eine emotionalisierte Debatte umschlägt. Hingegen bekommt die ‚stille Mitte‘ mit ihren sehr unterschiedlichen und differenzierten Ansichten wenig Gehör. Doch wir müssen diesen moderaten Stimmen wieder viel mehr Raum geben, findet Steffen Mau. Und genauso sehe ich das auch. Können wir nicht Standpunkte vertreten und dem oder der anderen eine Tür offenlassen für ihren Standpunkt, für ihre Meinung, für ihr Argument?
Der Glaube an etwas Gemeinsames mag uns im Moment manchmal fehlen. Aber die Idee, gemeinsam für etwas einzustehen, hat weiterhin Strahlkraft. Das ist die Idee einer sozial gerechten Gesellschaft. Es ist eine Idee, die dem Egoismus in Gemeinsamkeit entgegentritt. Deswegen finde ich die neue ostdeutsche Arbeiterbewegung so wichtig, die gerade in immer mehr Betrieben für ihre Rechte und höhere Löhne kämpft: Das bringt vielen ostdeutschen Beschäftigten den Respekt zurück! Deswegen finde ich auch die aktuellen Demos gegen Rechtsextremismus so wichtig. die Leute erleben nach Jahren vielfacher Krisen und verbreiteter Ohnmachtsgefühle einen Aufbruch, der aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Hier entsteht gerade wieder ein »Wir«, das unterschiedliche Meinungen hat, auch mal miteinander streitet. Wo wir uns aber nicht unterscheiden: Wir machen uns Sorgen um unsere Demokratie. Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien wollen unsere Gesellschaft mit Wut auseinanderreißen. Und da haben wir alle gemeinsam etwas dagegen. Und genau das »Wir« sehe ich immer dort, wo Menschen gemeinsam etwas auf die Beine stellen. Ich sehe jeden Tag, dass Menschen in Sachsen einfach »machen«. Sie sind oft still, erzeugen keine Aufreger und finden deswegen oft nicht ihre verdiente Anerkennung in der überlauten Polarisierung. Zu Unrecht! Diese Geschichten müssen wir sehen und zeigen. Es sind genau sie, die unsere Gesellschaft tragen. Sie sind es, die für etwas einstehen. Sie nehmen den Wunsch danach, dass es besser wird, selbst mit in die Hand.
Ich bin sehr davon überzeugt, dass Respekt der zentrale Begriff ist, der unsere Gesellschaft zusammenhalten kann. Respekt ist nicht etwa ein anderer Begriff für Gerechtigkeit. Sondern er nimmt das Gefühl vieler auf, dass die Arbeit, die Leistung und die Lebensweise der einfachen Leute etwas wert ist. Und damit auch die Lebensleistung der Ostdeutschen. Polarisierung und Egoismus machen hingegen unsere Gesellschaft kaputt. Wir sollten endlich wieder den moderaten, differenzierten Stimmen einen ausreichenden Raum geben. Eine vermittelnde Position ist keine Schwäche, sondern etwas Gutes. Lassen Sie uns alle den Mut dafür aufbringen. So kann es gelingen, dass die Wut unsere Gesellschaft nicht auseinanderreißt.