KIEL. Im Auftrag des Sozialministeriums und in Umsetzung eines Beschlusses des Schleswig-Holsteinischen Landtags erfolgte eine wissenschaftliche Untersuchung über die Gewalt- und Unrechtstaten gegenüber Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Jahren 1949 bis 1990. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Teams um Prof. Dr. Cornelius Borck von der Universität zu Lübeck haben dazu den Abschlussbericht vorgelegt. Darin bestätigen die Autorinnen und Autoren, dass in der untersuchten Zeit Kinder und Jugendliche Vernachlässigung und Misshandlungen in den Einrichtungen ausgesetzt waren. Dies hatte auch ein viel beachtetes gemeinsames Symposium mit Betroffenen im Landtag 2018 bestätigt. Aufgrund bundesweiter Missstände in Psychiatrien hatte es Mitte der 70er Jahre eine große nationale Aufarbeitung und die Einleitung eines großen Umbruchs in Deutschland in dem Bereich gegeben („Psychiatrie-Enquete“
). Dass dieser Umbruch deutlich länger dauerte als gewünscht, bestätigt der jetzige Abschlussbericht ebenfalls. Einbezogen werden dabei auch die gesellschafts- und gesundheitspolitischen Entwicklungen nach 1975, was im Vergleich zu anderen verwandten Forschungen ein besonderes Merkmal des Berichts ausmacht.
Sozialminister Heiner Garg: „Es ist erschütternd, dass Menschen, die Hilfe und Schutz erwarteten, Misshandlung und Vernachlässigung erfahren haben. Der Bericht bestätigt die Erinnerungen der Betroffenen eindrücklich. Ihnen gilt mein besonderer Dank für die Mitarbeit, ebenso dem wissenschaftlichen Team. Das Land unterstützt Betroffene weiterhin und hat dafür mehr als 6 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um auch nach dem Auslaufen der bundesweiten Hilfe- bzw. Unterstützungsleistungen durch den Fonds Heimerziehung und durch die Stiftung Anerkennung und Hilfe vergleichbare Anerkennungs- oder Unterstützungsleistung in Schleswig-Holstein zu gewähren.“
Sozialausschussvorsitzender und Abgeordneter des Schleswig-Holsteinischen Landtags Werner Kalinka: „Unser tiefes Mitgefühl gilt allen Menschen, die in dieser Zeit Leid und Unrecht erfahren haben und mit den Auswirkungen teilweise ein Leben lang umgehen müssen. Der Schleswig-Holsteinische Landtag hat fraktionsübergreifend verdeutlicht, dass sich so etwas nie wiederholen darf und unterstützt Betroffene durch die bereitgestellten Hilfeleistungen. Mein Dank gilt auch im Namen des Sozialausschusses den Betroffenen und dem wissenschaftlichen Team für die wertvolle Aufarbeitung.“
In der Aufarbeitung berichten Betroffene von Schlägen, Zwang, Missbrauch, medikamentöser Ruhigstellung und Ausbeutung, unter deren Folgen sie bis heute zu leiden haben. Darüber hinaus wurden sexuelle Übergriffe, demütigende Strafpraktiken und körperliche Misshandlungen geschildert, die ein gravierendes Ausmaß an Gewalttätigkeit und Willkür des Personals erkennen ließ. Ursächlich für die Gewalt und Willkür in stationären Einrichtungen begünstigenden Rahmenbedingungen seien strukturelle Mängel in den Einrichtungen der Psychiatrie und Behindertenhilfe, die für die Nachkriegsjahrzehnte der Bundesrepublik insgesamt kennzeichnend waren. Hinzu kämen die institutionellen, rechtlichen, landes- und kommunalpolitischen sowie gesellschaftlichen Gegebenheiten der psychiatrischen und heilpädagogischen Unterbringungspraxis in Schleswig-Holstein. Hierzu zähle v.a. auch eine mangelhafte bzw. Missstände tolerierende Kontrollpraxis gegenüber den zu beaufsichtigenden Institutionen.
Als gewaltfördernd seien auch die im Nachkriegsdeutschland weit verbreiteten Stereotypen gegenüber Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen einzubeziehen. Auch die Verstrickungen in die nationalsozialistische Politik der Einrichtungen sowie die Haltung von Klinikpersonal seien zu berücksichtigen. Demnach hätten viele der interviewten ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berichtet, dass insbesondere die „alte Riege“ der Pflegekräfte auf Gewalt und Entwürdigung im Arbeitsalltag zurückgegriffen habe.
Festzustellen sei auch eine fehlende Differenzierung zwischen psychiatrischen und heilpädagogischen Zuständigkeiten, die damals in der Bundesrepublik insgesamt weit verbreitet gewesen sei. Die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung des Landeskrankenhauses Schleswig sei im Untersuchungszeitraum demnach eher eine Großeinrichtung der Behindertenhilfe und kaum eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gewesen. Hinweise auf diagnostische oder therapeutische Maßnahmen gab es demnach kaum.
Das Land habe Reformen im Bereich der Psychiatrie nur unzureichend vorgenommen, was maßgeblichen Einfluss auf die Weichenstellung in der Gesundheitspolitik genommen habe. Die Reformbemühungen durch die „Psychiatrie-Enquete“ der 1970er Jahre hätten wenig Niederschlag gefunden. Die Sanierungsprogramme der 1960er Jahre und der 1978 vorgelegte Psychiatrieplan leisteten bis 1990 den als dysfunktional zu beschreibenden Strukturen der Unterbringungspraxis zu wenig Abhilfe. Reformbemühungen und Interventionen kamen v.a. aus verschiedenen selbstorganisierten Interessenvertretungen.
Im Zuge der späteren Aufarbeitung wurden Schleswig-Holstein ab 2017 bis einschließlich drittem Quartal 2021 rund 10,5 Millionen Euro Anerkennungs- und Rentenersatzleistung über die durch die Bundesländer, Bund und Kirchen finanzierte Stiftung Anerkennung und Hilfe an mehr als 1000 Betroffene ausgezahlt. Weitere Info, auch zur weiterhin möglichen Unterstützung von Betroffenen durch das Land finden Sie hier:
Aufarbeitung von Leid und Unrecht
Den Abschlussbericht finden Sie hier:
Wissenschaftliche Aufarbeitung des Landes
Kontakt für Betroffene: Landesamt für soziale Dienste Stiftung Anerkennung und Hilfe, Telefon: 04321 913-753 oder -751, Steinmetzstraße 1-11, 24534 Neumünster.
Christian Kohl | Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig-Holstein | Adolf-Westphal-Straße 4, 24143 Kiel | Telefon 0431 988-5317 | E-Mail: pressestelle@sozmi.landsh.de | Medien-Informationen der Landesregierung finden Sie aktuell und archiviert im Internet unter www.schleswig-holstein.de | Das Ministerium finden Sie im Internet unter www.schleswig-holstein.de/sozialministerium, www.facebook.com/Sozialministerium.SH oder www.twitter.com/sozmiSH