Warum die deutschen Landwirte wirklich streiken
Auslöser für die Bauernproteste in Deutschland waren Subventionskürzungen. Doch die tiefer liegenden Gründe sind ein agrarpolitischer Schlingerkurs und fehlende Zukunftsperspektiven. Sind solche Proteste auch in der Schweiz zu erwarten?
Von Katharina Wecker, 11.01.2024
Schwere Traktoren rollen seit Montag durch ganz Deutschland. In Berlin, München, Hamburg und fast jeder kleineren Stadt demonstrieren insgesamt Zehntausende Bäuerinnen gegen die Bundesregierung. Sie kippen Misthaufen auf Autobahnauffahrten, stellen Traktoren auf Kreuzungen quer. Vielerorts steht der Verkehr still.
An den Traktoren hängen Plakate mit Sätzen wie «Der Wahnsinn muss ein Ende haben», «Bauerntod = Hungersnot» oder «Jungbauer sucht Zukunft». Auch der eine oder andere Stinkefinger ist auf den Schildern zu sehen. An einzelnen Orten tauchten Darstellungen von Ampeln an Galgen auf. Weil diese mit Bezug auf die Ampelregierung als öffentliche Aufforderung zu einer Straftat verstanden werden könnte, ermittelt nun teilweise die Polizei.
Zu der Protestwoche aufgerufen hat der Deutsche Bauernverband, nachdem die Bundesregierung im vergangenen Dezember Subventionskürzungen angekündigt hatte. So soll beispielsweise die Steuerbefreiung für landwirtschaftliche Fahrzeuge und Maschinen gestrichen werden oder die Subventionen für Agrardiesel. Die Kürzungen hat die Ampelkoalition, bestehend aus SPD, FDP und den Grünen, zwar teilweise schon wieder zurückgenommen. Trotzdem soll noch bis zum 15. Januar demonstriert werden.
Anders als befürchtet blieb der Protest bisher an den meisten Orten friedlich. Im Vorfeld hatten Rechtsextreme und Verschwörungsideologen massiv für die Bäuerinnenproteste mobilisiert. In den letzten Wochen war die Stimmung teilweise aggressiv gewesen. So hatten Mitte Dezember rund 30 Traktoren vor dem Privathaus von Niedersachsens Landwirtschaftsministerin Miriam Staudte ein Hupkonzert veranstaltet. Und vergangene Woche war der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck von bis zu 300 aufgebrachten Menschen mit Traktoren, Lastwagen und übrig gebliebenen Silvesterraketen davon abgehalten worden, nach seinen Ferien von einer Fähre an Land zu gehen. Auf Telegram wurde der Überfall danach von rechtsextremen Kreisen bejubelt.
In Bonn verteilten die demonstrierenden Landwirte am Montag Äpfel an die Menschen in der Innenstadt, Kaffee und Gebäck an die Polizistinnen. Insgesamt gab es viel Zuspruch und Verständnis. Zuschauer applaudierten den vorbeifahrenden Landwirtinnen immer wieder. Trotz allem war die Wut der Bauern aber deutlich zu spüren.
Woher kommt sie?
Hauruck-Aktionen ohne Plan
Tatsache ist, dass die inzwischen wieder in Teilen zurückgenommenen Subventionskürzungen für die meisten Betriebe wohl nicht existenzgefährdend wären. Das zeigt der Blick auf die Zahlen: Wäre die Agrardieselvergütung wie ursprünglich angekündigt gestrichen worden, hätten durchschnittliche Betriebe pro Jahr 700 bis 4000 Euro weniger in der Tasche, wie die Fachzeitschrift «Agrarheute» ausgerechnet hat. Dazu wäre die Kraftfahrzeugsteuer gekommen, die für landwirtschaftliche Fahrzeuge bislang nicht gezahlt werden muss. Diesen Plan hat die Bundesregierung nach ersten Protesten allerdings schon wieder zurückgenommen. Die Agrardieselsubvention wird nun schrittweise abgeschafft.
Doch darum allein geht es nicht. Die eigentliche Ursache für die Proteste liegt tiefer. Es geht um enttäuschte Hoffnungen in der Vergangenheit, fehlende Zukunftsperspektiven und politische Hauruckmassnahmen.
Spontane Agrarpolitik habe es in der Vergangenheit mehrfach gegeben, sagt Knut Ehlers, Leiter des Fachgebiets Landwirtschaft beim Umweltbundesamt. «Ich erkenne ein Muster: Wenn die Bundesregierung – wie auch jetzt wieder – von akuten Zwängen und Nöten getrieben ist, trifft sie Ad-hoc-Einzelentscheidungen, während die grossen Fragen weiter unbeantwortet bleiben.» Solche politischen Ad-hoc-Entscheidungen treffen auf eine Landwirtschaft, die mit Alltagsproblemen und Zukunftssorgen zu kämpfen hat. «Da sind die Kürzungen dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt», sagt Ehlers.
Die letzten grossen Landwirtschaftsproteste fanden 2019/2020 statt. Damals hatte die EU Deutschland wegen zu hoher Nitratwerte im Grundwasser verklagt. Als Reaktion darauf verschärfte die damalige Bundesregierung unter Angela Merkel (CDU) die Düngeverordnung. Die neue Regelung kam quasi über Nacht. Obwohl das Problem mit den hohen Nitratwerten seit Jahrzehnten bekannt war, wurde das Gesetz erst angepasst, als Deutschland verklagt wurde. Die Landwirtinnen liefen gegen die neuen Regelungen Sturm. Sie fühlten sich in ihrer Existenz bedroht, weil sie einen geringeren Ertrag befürchteten, wenn sie weniger düngen könnten.
Nach den Düngeprotesten forderte Angela Merkel die Landwirte auf, konstruktiv nach Lösungen zu suchen. Sie initiierte «Agrargipfel»-Gespräche mit Vertreterinnen aus der Landwirtschaft, der Industrie, von Natur- und Umweltschutzorganisationen. Die Zukunftskommission Landwirtschaft wurde einberufen und die sogenannte Borchert-Kommission, die sich mit Tierwohl beschäftigte.
Ehlers vom Umweltbundesamt empfand die beiden Kommissionen als sehr wertvoll. Denn alle Stakeholder hätten sich an einen Tisch gesetzt und überlegt: Wie kriegen wir das mit dem Wandel hin? Wie schaffen wir einen Interessenausgleich? «Dass jede Gruppe, also Naturschützer, Tierschützer, Klimaschützer und Landwirte, unterschiedliche Interessen verfolgt, ist nachvollziehbar. Aber letztendlich muss man auf einen gemeinsamen Nenner kommen, denn der eine kann ohne den anderen nicht funktionieren», sagt Ehlers.
Die Expertinnengremien legten vielversprechende Vorschläge und eine agrarpolitische Strategie vor, die auf Konsens beruhten. Doch die wurden von der Politik ignoriert, die Hoffnungen der Beteiligten enttäuscht. Weder die Regierung unter Angela Merkel noch die jetzige Ampelkoalition hätten die politischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung der Empfehlungen geschaffen, schrieben die Mitglieder der Borchert-Kommission im August 2023 und legten ihre Arbeit nieder. Auch die Mitglieder der Zukunftskommission beklagten sich über den fehlenden Ehrgeiz der Ampelkoalition, die einstimmig gefassten Beschlüsse umzusetzen. Trotzdem macht die Kommission weiter.
Fehlende Zukunftsvision
Die Landwirte stehen vor diversen Herausforderungen – nicht nur in Deutschland. Der Konkurrenz- und Preisdruck ist hoch, die Gesellschaft fordert mehr Umwelt- und Klimaschutz, mehr Tierwohl. Das führe zu einer generellen Unzufriedenheit und Unsicherheit, sagt Thomas Herzfeld, Leiter Agrarpolitik am Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien. «Die Landwirtschaft hat den Eindruck, es wird immer mehr verlangt, aber die Politik gibt keine klaren Rahmenbedingungen vor oder sagt, wo es genau hingehen soll», sagt er.
Doch eine langfristig ausgelegte Agrarpolitik gibt es seit den Nachkriegsjahren nicht mehr. Damals lag das Hauptaugenmerk darauf, Nahrungsmittel in ausreichender Menge und Qualität zu produzieren. Das hat die Politik bewusst mit Subventionen gefördert – sehr erfolgreich. So erfolgreich, dass sich die Landwirtschaft modernisierte, produktiver und effizienter wurde. Es kam sogar zu einer Milchüberproduktion, sogenannte Milchseen und Butterberge entstanden. Die EU musste enorme Lagerbestände aufkaufen und einlagern, um den Marktpreis zu stabilisieren.
Seit den Nachkriegsjahren wurden die historisch gewachsenen Subventionen aber kaum angepasst. Allerdings haben die Bauern diese auch immer verteidigt. «Es fehlt eine konkrete Zukunftsperspektive für die Art und Weise, wie, wofür und in welchem Umfang wir die Landwirtschaft fördern wollen», sagt Herzfeld.
Auch aus der Europäischen Union, die mit ihrer Gemeinsamen Agrarpolitik – einem Steuerungs- und Finanzierungsinstrument – die Landwirtschaft in Deutschland massgeblich prägt, gibt es keine wirkliche Vision mit konkreten Massnahmen. Die Klimaziele und die Farm-to-fork-Strategie der EU, mit der die Agrarproduktion gesünder und umweltfreundlicher werden soll, geben zwar die Stossrichtung vor: weniger Tierhaltung, mehr Biodiversität, weniger Pestizide, mehr Ökoanbau. Doch die Subventionen fördern nach wie vor hauptsächlich grosse Betriebe, unabhängig von ihrer Bewirtschaftungsart – 80 Prozent der europäischen Förderungen gehen an nur 10 Prozent der Betriebe. Der Status quo bleibt also erhalten.
Schweizer Landwirtschaft politisch gut vertreten
Bei den deutschen Landwirtinnen schwelt die Unzufriedenheit schon lange mit. Wie ist die Stimmung in der Schweiz? Ist mit solchen Protesten auch hierzulande zu rechnen?
Nein, meint der Schweizer Bauernverband. «Wir sind dankbar und froh, dass die Situation in der Schweiz etwas besser ist», sagt Sandra Helfenstein, Sprecherin des Schweizer Bauernverbands. Anders als ursprünglich geplant gibt es 2024 keine Reduktion der Direktzahlungen. Und auch die Mineralölsteuerrückerstattung bleibt, anders als in Deutschland, für die Bauernbetriebe erhalten.
Robert Finger, Professor für Agrarpolitik an der ETH Zürich, sieht momentan ebenfalls keine Gefahr, dass es zu Protesten in dem Ausmass wie in Deutschland kommt. Ja, es gebe auch hier Unstimmigkeiten in der Agrarpolitik und grosse politische Unsicherheiten, wenn über Volksinitiativen wie die Pestizid-, die Massentierhaltungs- oder Biodiversitätsinitiativen abgestimmt werde. Und ja, die Landwirtinnen mahnten vermehrt an, dass der Markt keine kostendeckenden Preise zahlt. Ausserdem gebe es wie in vielen europäischen Ländern steigende Anforderungen von der Politik und vom Markt bezüglich mehr Tierwohl, mehr Nachhaltigkeit, mehr Klimaschutz.
Ein grosser Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz ist aber, dass die deutschen Landwirte das Gefühl haben, von der Politik ignoriert und übergangen zu werden. In der Schweiz ist das anders. «Hier haben wir nicht die Situation, dass die Landwirte nur durch Proteste ihrer Stimme Gehör verschaffen können», sagt Finger. «Die Anliegen der Landwirtschaft sind zum Beispiel gut im parlamentarischen Prozess vertreten.»
Die Schweizer Landwirtinnen haben sogar eine äusserst starke Lobby. Besonders mächtig sind Markus Ritter und sein Bauernverband in Bern. Dank diesem wurde das Agrarbudget 2024 nicht gekürzt.
In Deutschland gehen die Bauern dagegen weiter auf die Strasse. Der Höhepunkt der Protestwoche soll am kommenden Montag in Berlin stattfinden: eine grosse Demo mit 10’000 Teilnehmerinnen und Hunderten von Traktoren, die die Hauptstadt lahmlegen sollen. Werde der Bundestag nicht einlenken, seien weitere Eskalationen geplant, sagte ein Bauer in Wutöschingen im Landkreis Waldshut: Dann werde man ganz Deutschland lahmlegen.
Katharina Wecker lebt in Bonn und berichtet als freiberufliche Journalistin über Umwelt, Klimawandel, Landwirtschaft und gesellschaftspolitische Themen. Ihre Texte und Videos erscheinen unter anderem bei der «Deutschen Welle» und «Spiegel online». Für die Republik schrieb sie zuletzt über die Suche nach dem nachhaltigen Steak.