Nachdem am Dienstag mindestens zwölf Personen bei Pager-Explosionen getötet wurden, kam es am Mittwoch erneut zu Detonationen mit Toten und Verletzten. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Am Dienstagnachmittag sind in Libanon fast gleichzeitig Hunderte von Pagern detoniert. Laut dem libanesischen Gesundheitsministerium kamen dabei mindestens zwölf Personen ums Leben, und fast 3000 Personen wurden verletzt.
Es wird vermutet, dass Tausende Pager mit Sprengstoff präpariert und ferngesteuert gezündet worden waren. Um 15 Uhr 30 am Dienstag hätten die Pager in Libanon eine Nachricht empfangen, die scheinbar von der Hizbullah-Führung ausgegangen sei, schreibt die «New York Times» unter Berufung auf mehrere Quellen. Die Nachricht habe den Sprengstoff ausgelöst.
Bisher hat sich noch niemand zu dem mutmasslichen Angriff bekannt. Verschiedene Medien gehen jedoch von einem israelischen Anschlag aus.
Die «New York Times» schreibt unter Berufung auf amerikanische und andere mit der Operation vertraute Beamte, Israel habe die Pager beim Transport abgefangen und darin jeweils 25 bis 50 Gramm Sprengstoff versteckt, bevor die Geräte nach Libanon importiert worden seien. Das Material sei neben der Batterie mit einem Schalter eingesetzt worden, der aus der Ferne zur Detonation gebracht werden konnte.
BREAKING via Reuters
— Yashar Ali 🐘 (@yashar) September 17, 2024
Hundreds of members of Hezbollah were seriously wounded on Tuesday when the pagers they use to communicate exploded.
Here is one video of one of the pager explosions. pic.twitter.com/UDepHvkkEe
Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert Quellen aus libanesischen Sicherheitskreisen, dass der israelische Geheimdienst Mossad vor Monaten Sprengstoff in 5000 vom Hizbullah importierten Pagern eingebaut habe.
Es könnte sich demnach um einen Angriff auf die Lieferkette handeln, bei dem die Geräte während der Herstellung oder des Transports manipuliert worden sind. Angriffe auf Lieferketten haben in den vergangenen Jahren zugenommen, Hacker greifen dabei aus der Ferne auf Produkte zu, während sie entwickelt werden.
Zunächst kursierte das Gerücht eines Cyberangriffs, der die Batterien der Pager habe überhitzen und detonieren lassen. Verschiedene Beobachter wiesen jedoch darauf hin, dass Batterien kaum solche Explosionen verursachen könnten.
Falls die Pager tatsächlich mit Sprengstoff bestückt worden sind, würde es sich um einen seltenen Angriff auf Hardware handeln. Die Geräte müssten händisch manipuliert worden sein, was eine höchst komplizierte Operation erfordert.
Laut einem Bericht des amerikanischen Nachrichtenportals Axios, das sich auf einen mit der Operation vertrauten ehemaligen israelischen Beamten beruft, bestand der ursprüngliche Plan Israels darin, die Pager als Auftakt zu einer grossangelegten Offensive gegen die Miliz detonieren zu lassen. Laut Bericht befürchtete Israel in den vergangenen Tagen jedoch, dass der Hizbullah den Plan aufdecken und vereiteln könnte. Deshalb sei man zur Tat geschritten.
Die meisten Explosionen wurden in den südlichen Stadtteilen von Beirut gemeldet, wo die Schiitenmiliz Hizbullah besonders präsent ist. Unter den Verletzten sind laut Berichten viele Hizbullah-Kämpfer, Mitglieder der Elitetruppe Radwan, aber auch der iranische Botschafter in Libanon. Er wurde zur Behandlung nach Teheran geflogen. Staatsmedien hatten in den vergangenen Tagen zunächst nur von einer «leichten Verletzung» gesprochen. Insgesamt hat der Iran 95 Patienten ausgeflogen.
Die Verwundeten hatten Verletzungen unterschiedlichen Grades im Gesicht, fehlende Finger und klaffende Wunden an der Hüfte. Ein Augenarzt in einem der grossen Spitäler in Beirut sagte der Nachrichtenagentur DPA, die meisten Verletzten hätten schwere Augenverletzungen, andere Chirurgen hätten den Opfern Arme amputieren müssen. Vermutlich hatten sie die Pager in der Hand oder in der Hosentasche, als sie explodierten.
Das Gesundheitssystem in Libanon steht enorm unter Druck und ist auf eine so grosse Zahl an Verletzten kaum vorbereitet. «Die Krankenhäuser waren überfordert», sagte Sulaiman Harun, Leiter des Krankenhaus-Syndikats in Libanon, der DPA. Die meisten der Verletzten müssten sofort operiert werden, einige hätten nach den Explosionen am Dienstagabend aber bis heute warten müssen.
Pager sind Lowtech-Kommunikationsgeräte, die Textnachrichten drahtlos empfangen und anzeigen, aber keine Anrufe tätigen können. Sie werden häufig von Rettungsdiensten zu Alarmierungszwecken verwendet.
In Libanon werden sie fast ausschliesslich von Mitgliedern und Kämpfern des Hizbullah genutzt, da sie anders als Handys nicht geortet werden können. Die extrem auf Geheimhaltung bedachte Organisation hatte ihre Mitglieder schon vor Monaten dazu verpflichtet, auf Mobiltelefone zu verzichten.
Laut Informationen des «Wall Street Journal» waren viele der betroffenen Pager Teil einer Lieferung, die der Hizbullah erst in den vergangenen Tagen erhalten haben soll. Die «New York Times» berichtet, die Pager seien unter Hizbullah-Mitgliedern in Libanon, Iran und Syrien verteilt worden.
Doch die Herkunft der Pager, wer sie hergestellt hat und auch der Weg, den sie nach Libanon genommen haben, sind weiterhin unklar.
Die Pager tragen laut verschiedenen Medienberichten das Logo der Firma Gold Apollo aus Taiwan. Es soll sich in den meisten Fällen um das neue Modell AP-924 handeln. Das Unternehmen teilte mit, die Pager nicht selbst produziert zu haben. Eine in Ungarn ansässige Firma namens BAC, die eine Lizenz für die Verwendung der Marke Gold Apollo besitze, habe die Pager hergestellt. «Design und Herstellung werden vollständig von BAC übernommen», teilte Gold Apollo mit.
Doch Recherchen zeigen, dass die Firma BAC die Pager nicht selbst herzustellen scheint. Der offizielle Firmensitz in Budapest ist nur ein Briefkasten. Und auch die Geschäftszahlen deuten darauf hin. Die Geschäftsführerin von BAC sagte gegenüber NBC News: «Ich bin nur die Zwischenhändlerin.» Bezüglich der Lieferung nach Libanon äusserte sie sich nicht, und Anfragen der NZZ blieben unbeantwortet.
Ein Tag nach den Detonationen sind am Mittwochnachmittag in zahlreichen Ortschaften in Libanon erneut Kommunikationsgeräte explodiert – dieses Mal drahtlose Geräte wie Walkie-Talkies. Laut Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums sind dabei mindestens 25 Personen getötet und mehr als 600 Personen verletzt worden.
Ein Augenzeuge in einem südlichen Vorort von Beirut sagte: «Wir hören die gleichen Geräusche wie gestern.» Zeitgleich fand an zumindest einem Ort einer Explosion die Beerdigung von Mitgliedern der Hizbullah statt, die am Vortag durch die Detonationen getötet wurden.
In Videos auf Social Media war zu sehen, wie sich Panik während der Beerdigungszeremonie verbreitete, nachdem Detonationen zu hören waren. Auch in der Hafenstadt Tyrus im Süden des Landes waren laut Berichten Explosionen zu hören.
Bilder der am Mittwoch explodierten drahtlosen Funkgeräte zeigen laut Medienberichten die Aufschriften «ICOM» sowie «Made in Japan». Der japanische Hersteller der Funkgeräte, Icom, bestreitet, dass die Geräte von ihm hergestellt worden seien. «Es gibt keine Möglichkeit, dass eine Bombe während der Herstellung in eines unserer Geräte eingebaut wurde. Der Prozess ist hochgradig automatisiert und schnell, so dass keine Zeit für solche Dinge bleibt», sagte ein Direktor des Unternehmens am Donnerstag (19. 9.) der Nachrichtenagentur Reuters. Icom habe die Produktion der Funkgeräte schon vor zehn Jahren eingestellt. Bei den Geräten, die sich noch im Handel befinden würden, handle es sich um Fälschungen.
Der Hizbullah hatte am 8. Oktober zur Unterstützung der Hamas in Gaza einen Grenzkrieg gegen das südliche Nachbarland begonnen. Bisher war es zwar gelungen, eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern. In den vergangenen Tagen hatte sich die Lage jedoch ein weiteres Mal zugespitzt.
Am Dienstag, noch vor den Detonationen in Libanon, hatte das israelische Sicherheitskabinett die Sicherung der Nordgrenze, aus deren Nachbarschaft Zehntausende Israeli wegen des anhaltenden Beschusses durch den Hizbullah fliehen mussten, offiziell zum Kriegsziel erklärt.
Für den Hizbullah bedeuten die Explosionen eine weitere Demütigung, nachdem bereits Ende Juli einer seiner höchsten Kommandanten, Fuad Shukr, mitten im Beiruter Hoheitsgebiet der Miliz von einer israelischen Drohne getötet worden war. Am Dienstag sprach ein Vertreter der islamistischen Miliz gegenüber Reuters von einem beispiellosen Sicherheitsleck.
Sollte sich herausstellen, dass tatsächlich Israel hinter den Explosionen steckt, dürfte das unabsehbare Konsequenzen haben. Zudem würde sich die Frage stellen, mit welcher Absicht die Israeli ausgerechnet jetzt Hunderte Hizbullah-Mitglieder ausser Gefecht setzen wollten. Es ist möglich, dass dies der Auftakt für eine bevorstehende israelische Offensive sein könnte. Der Hizbullah erklärte am Dienstag zudem, Israel werde «seine gerechte Strafe» für die Explosionen erhalten.
Israels Armee hat am Mittwoch die Alarmbereitschaft erhöht. In Erwartung einer möglichen Reaktion des Hizbullah seien Luftverteidigung, Luftwaffe und Militärgeheimdienst in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzt worden, berichtete der israelische Armeesender. Eine Elite-Division solle ausserdem im Rahmen der erhöhten Spannungen vom Gazastreifen an die Grenze zu Libanon verlegt werden.
Mehrere Fluggesellschaften haben ihre Flüge nach Tel Aviv und Beirut für mehrere Tage annulliert, darunter auch die Lufthansa-Gruppe, zu der auch die Swiss gehört, sowie die Air France.
Mit Agenturmaterial.