Echt oder nicht echt? Seit Jahrhunderten diskutieren Kirchenleute, Gläubige und Forschende über das Turiner Grabtuch, jenes Stück Leinen, das einst den Leichnam von Jesus nach seiner Kreuzigung umhüllt haben soll. Und obwohl allein in den letzten 50 Jahren mehr als ein Dutzend Studien und Analysen zu dem Tuch erschienen sind, kommen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch immer zu neuen Erkenntnissen.
Im Jahr 1988 führten drei Labore eine Radiokarbondatierung (C14) durch und bestimmten die Entstehung des Tuchs unabhängig voneinander auf 1260 bis 1390 nach Christus – deutlich nach der vermutlichen Lebenszeit des Jesus von Nazareth. Doch die Ergebnisse wurden immer wieder angezweifelt: Zuletzt wollte ein italienisches Team von Forschenden im Jahr 2022 mithilfe einer neuartigen Röntgenmethode herausgefunden haben, dass das Tuch rund 2000 Jahre alt sei. Weitläufige Anerkennung erfuhr diese Untersuchung nicht.
Auf dem Turiner Grabtuch ist der linke Arm deutlicher länger als der rechte
Jetzt legt der Spanier Elio Quiroga Rodriguez, Filmregisseur und Dozent an der Universidad del Atlántico Media in Las Palmas, in einer neuen Studie weitere Hinweise dafür vor, dass das Turiner Grabtuch wohl weder den toten Körper Jesu noch den eines anderen Menschen umhüllt hat.
Dafür untersuchte Quiroga Rodriguez körperliche Anomalien der Darstellung auf dem Tuch: Demzufolge ist der Abdruck des linken Arms sieben bis zehn Zentimeter länger als der des rechten Arms, schreibt der Spanier in dem Fachmagazin "Archaeometry". Zudem sei die linke Hand zehn Prozent länger als eine "typische menschliche Hand", so der Autor.
Die unterschiedlich langen Arme und Hände waren bereits bei früheren Untersuchungen aufgefallen und wurden zuweilen damit erklärt, die Kreuzigung habe die Extremitäten deformiert. 2020 jedoch schloss eine forensische Studie aus, dass das Hängen am Kreuz einen Arm oder eine Hand um so viele Zentimeter strecken könnte.
Quiroga Rodriguez geht nun davon aus, dass der linke Arm sowie die Hand absichtlich unnatürlich lang dargestellt wurden – um den Schambereich der Jesus-Abbildung zu verdecken. "Diese bewusste künstlerische Entscheidung betont den symbolischen Charakter des Grabtuches und lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die spirituelle Bedeutung des gekreuzigten Jesus statt auf seine physische Gestalt", schreibt der Spanier.
Mitte des 14. Jahrhunderts wurde das Turiner Grabtuch erstmals schriftlich erwähnt
Die dargestellte Pose stelle zudem Bescheidenheit, Demut und Selbstlosigkeit dar – zentrale Botschaften des Christentums. Den Messias vollständig entblößt zu zeigen hätte als Zeichen der Respektlosigkeit gegolten. "Im Laufe der Geschichte wurde die Figur Jesus in der Ikonographie nie völlig nackt dargestellt, und dieses Tabu hält sich bis in die heutige Zeit", erklärt Quiroga Rodriguez. Jedenfalls, so der Autor weiter, entspreche das vermeintliche Grabtuch schlicht den Gepflogenheiten mittelalterlicher Kunst, sei aber nichts weiter als eine Fälschung.
Die römisch-katholische Kirche stuft das Tuch nicht als echte Reliquie ein, sondern als Ikone, als Zeugnis des Glaubens, das eine Verbindung zwischen Betrachtenden und Gott schaffen könne. Der Überlieferung zufolge gelangte der Stoff nach der Kreuzigung zunächst in die heutige Türkei. Später soll er sich in Konstantinopel befunden haben und schließlich in Frankreich, wo er Mitte des 14. Jahrhunderts erstmals schriftlich erwähnt wurde – in jener Zeit also, aus der das Tuch auch laut der Radiokarbondatierung von 1988 stammt und zu der nun auch die Analyse von Quiroga Rodriguez passt.
Im 16. Jahrhunderte erreichte das Stück Leinen Turin, wo es heute in einer Domkapelle aufbewahrt, aber nur unregelmäßig gezeigt wird. Die nächste öffentliche Ausstellung ist für 2025 geplant.