KRAKAU, 24. MÄRZ 1794, gegen 10 Uhr. Aus dem Rathausturm schallt Glockengeläut über den Rynek Główny, den Hauptmarkt, dringt durch die Gassen und in die Häuser der Stadt. Das Läuten ruft die Bevölkerung zusammen. Auf dem weiten Platz sind bereits Soldaten angetreten, umringt von Schaulustigen. Bald drängen sich hinter ihnen Tausende Bürger und Bürgerinnen, Adelige, Bauersleute, Priester, Juden; Frauen schauen aus den Fenstern der umliegenden Gebäude. Einige der Versammelten tragen Schärpen mit Aufschriften wie "Einheit und Unabhängigkeit", "Freiheit oder Tod". Andere halten das Porträt eines Offiziers in die Höhe, mit Schwert, langen Haaren und einer spitzen, leicht aufwärts zeigenden Nase. Trotz der frühen Jahreszeit ist es sonnig und warm.
Endlich tritt der Porträtierte selbst auf den Platz – Tadeusz Kościuszko, in engen Reithosen, roter Weste und grün-grau gestreifter Jacke. Dazu trägt er die Schärpe eines Generals, an der Seite einen Säbel.
Trommelschläge. Stille. Kościuszko sagt einige aufmunternde Worte zu den Soldaten, dann spricht der Abgesandte der Wojewodschaft Krakau beim Sejm, dem polnischen Reichstag. Der Vertreter der Region um die einstige polnische Hauptstadt verkündet: Um das von Feinden zerstückelte und unterdrückte Vaterland wieder aufzurichten, greifen die Einwohner des Bezirks zu den Waffen. Sie rufen alle Polen auf, sich ihnen anzuschließen, um für Freiheit, Einheit und Unabhängigkeit ihres Landes zu kämpfen. Und sie übertragen dem General Tadeusz Kościuszko den Oberbefehl sowie die Vollmacht, eine neue, gerechte Ordnung zu errichten. Anschließend schwört Kościuszko vor Gott dem gesamten polnischen Volk, diesen Auftrag zu erfüllen. Als er endet, brandet Jubel auf: "Es lebe Polen! Es lebe Kościuszko!"
Polens Zukunft war in Gefahr
Die Proklamation von Krakau eröffnet einen verzweifelten Kampf um Polens Existenz – denn nicht weniger steht auf dem Spiel. Seit Jahrzehnten von seinen Nachbarn bedrängt, im Innern uneinig, ist von dem einst gewaltigen Reich nicht mehr geblieben als ein Streifen Land von der Ostsee bis zur oberen Weichsel. Alles Übrige haben im Osten Russland, im Westen Preußen, im Süden Österreich an sich gerissen; gerade einmal ein Jahr liegt der Schock des letzten Raubzugs zurück. Lediglich rund dreieinhalb Millionen von einst zwölf Millionen Menschen leben noch in dem Rumpfstaat. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die drei Mächte auch diesen Rest untereinander aufteilen werden.