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Weimarer Republik Hitler-Putsch, Hyperinflation, Elend: Wie die Demokratie dem Krisenjahr 1923 trotzte

Eine von zahlreichen Bedrohungen für die Weimarer Republik im Jahr 1923: der Hitler-Putsch am 8. und 9. November in München
Eine von zahlreichen Bedrohungen für die Weimarer Republik im Jahr 1923: der Hitler-Putsch am 8. und 9. November in München
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1923 gilt in Deutschland vor allem als Jahr der Krisen. Zu Unrecht, sagt der irische Historiker Mark Jones: Im Interview erklärt er, wie Politiker in jenem Jahr die Demokratie gegen Angriffe vom linken und rechten Rand verteidigt haben

GEO: Das Jahr 1923 war für Deutschland ein Jahr der Krisen: Ruhrbesetzung, Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit, Hitler-Putsch. Warum ist die Weimarer Republik angesichts dieses unheilvollen Zusammentreffens nicht schon 1923 gescheitert?

Dr. Mark Jones: Das ist so eine typische Frage! Eigentlich müsste man fragen: Warum erwarten viele Deutsche, dass die Weimarer Republik 1923 scheitert? Und die Antwort lautet: Weil sie denken, dass die Demokratie in Deutschland schwach war, keinen Krisen standhalten konnte und die Zukunft den Nationalsozialisten gehören musste. Aber das ist eine heutige Perspektive, nicht die der Zeitgenossen damals.

War die Demokratie in Weimar denn nicht "schwach"?

Das lässt sich so nicht verallgemeinern. Das Jahr 1923 zeigt vielmehr die Stärke der Demokraten in der Weimarer Republik. Heute wird Demokratie in Deutschland oft als etwas betrachtet, das sich erst nach 1945 etabliert hat. Dabei reichen demokratische Ideen in Deutschland natürlich bis 1848 und noch weiter zurück. Die Demokratie ist 1919 mit der Errichtung der Weimarer Republik nicht vom Himmel gefallen, und die demokratischen Politiker wussten nur zu genau, was für eine kostbare Institution sie 1923 verteidigten – auch deshalb waren sie erfolgreich.

Dr. Mark Jones lehrt am University College Dublin und forscht schwerpunktmäßig zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert
Dr. Mark Jones lehrt am University College Dublin und forscht schwerpunktmäßig zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert
© Privat

Wer waren 1923 die größten Verteidiger der Weimarer Republik?

Allen voran der damalige Reichskanzler Gustav Stresemann und der Reichspräsident Friedrich Ebert. Stresemann verkündete im September 1923 den Abbruch des passiven Widerstands: Großflächige Streiks gegen die französische und belgische Ruhrbesetzung hatten Industrie und Verkehr teils lahmgelegt. Der Reichskanzler erkannte aber, dass eine Fortsetzung die Hyperinflation weiter angefacht und die deutsche Volkswirtschaft, vielleicht sogar die Republik, zerstört hätte. Für die Stabilisierung der Wirtschaft war das eine notwendige, in Zeiten des Nationalismus aber riskante Entscheidung: In Bayern planten rechtsextreme Kreise einen Putsch gegen die Reichsregierung, und vor allem in Sachsen und Thüringen sahen Kommunisten den Moment für eine Revolution gekommen. Um diesen Bedrohungen zu begegnen, berief sich Ebert auf das Notverordnungsrecht, durch das er als Reichspräsident eine Reihe von Vollmachten erhielt. Auf dieser Grundlage konnten zum Beispiel Reichswehrtruppen nach Sachsen entsandt und die dortige Landesregierung abgesetzt werden. Das zeigt doch, dass die Weimarer Republik eben nicht nur Scheitern und Radikalisierung war: 1923 siegten deutsche Demokraten über ihre Widersacher von links und rechts.

Sie gehen sogar noch weiter. In Ihrem Buch beschreiben sie 1923 als den "wohl größten Erfolg der deutschen Demokraten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts". Ist das nicht etwas hoch gegriffen?

An welche Erfolgsmomente der deutschen Demokratie denken Sie denn in diesem Zeitraum?

Zum Beispiel die Revolution von 1918/19, die Weimarer Nationalversammlung 1919 oder die Ausarbeitung des Grundgesetzes 1948/49.

Die Ausarbeitung des Grundgesetzes wurde maßgeblich von den westlichen Alliierten angestoßen. Zu sagen, dies sei der größte Moment der deutschen Demokratie gewesen, würde Millionen Deutsche in der damaligen sowjetischen Besatzungszone von diesem Prozess ausschließen. Die Ausrufung der Republik 1918 wiederum war natürlich ein entscheidender Moment, wir dürfen aber nicht vergessen: Ein Großteil der Bevölkerung sehnte die Demokratie herbei, vor allem, damit der Erste Weltkrieg ein Ende findet, aber auch in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Das ist der Grund dafür, dass rund 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 für Parteien stimmten, die für die liberale Demokratie standen.

Und das soll kein gewaltiger Erfolg der Demokratie sein? Was macht 1923 in Ihren Augen "größer"?

Der Anfangsoptimismus war 1923 verschwunden. Die Weimarer Republik konnte die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, im Gegenteil: Die Hyperinflation stürzte die Demokratie in eine schwere Legitimationskrise, Hunderttausende Menschen verloren alles, was sie hatten. Als Stresemann das Ende des passiven Widerstands verkündete, betrachteten viele national eingestellte Bürgerinnen und Bürger dies als Verrat an Deutschland. 1923 waren die Gegner der Demokratie, sowohl am linken als auch am rechten Rand, in einer viel stärkeren Position als 1918, die Weimarer Republik stand am Abgrund. In einer solch dramatischen Situation die Demokratie zu retten, ist eine beispiellose Errungenschaft.

1923 stürzt die Hyperinflation Millionen Menschen in die Armut, hier: lange Warteschlangen vor der Reichsbank in Berlin
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Letztlich ist die Weimarer Republik trotzdem gescheitert. Warum ist es Ihnen so wichtig, auf die Erfolge im Jahr 1923 hinzuweisen?

Damit die langen demokratischen Traditionen, die es in Deutschland gibt, stärker ins Bewusstsein gelangen. Und um die Vorgänge des Jahres 1923 besser einzuordnen. Was denken Sie denn, welches damalige Ereignis 2023, 100 Jahre später, die größte Aufmerksamkeit erfahren wird?

Der Hitler-Putsch.

Ganz bestimmt. Der Fokus wird auf Hitler liegen, und das halte ich für falsch. Die Nationalsozialisten haben den Putsch zu ihrem Gründungsmythos stilisiert. In Wirklichkeit aber war er nur eine Krise von vielen und sicherlich kein Ereignis, von dem der Fortbestand der Republik abhing. Dass sich von allen Gegnern der Demokratie – Kommunisten und rechte Kreise – ausgerechnet die Randgruppe der Nationalsozialisten durchsetzen wird, war 1923 nicht abzusehen. Deshalb sollten wir heute nicht die Geschichte aus der Perspektive der Nationalsozialisten erzählen, sondern aus der Perspektive derjenigen, die aufgestanden sind und die Demokratie erfolgreich verteidigt haben.

Wie nahmen denn Zeitgenossen das Jahr 1923 wahr?

Sahen sie die Demokratie nach den überstandenen Krisen gefestigt, oder rechneten sie – im Gegenteil – mit weiteren Erschütterungen? Es gab durchaus Optimismus. Intellektuelle, darunter zum Beispiel Thomas Mann, glaubten Ende 1923 an einen neuen, friedlichen Aufbruch für Europa. Höhepunkt dieser Optimismuswelle war die Konferenz von Locarno 1925, auf der Deutschland, Frankreich und Belgien zusicherten, auf eine gewaltsame Veränderung ihrer Grenzen zu verzichten. Die große Frage ist, was passiert wäre, wenn die Weimarer Republik nach 1923 mehr Zeit gehabt hätte, sich zu stabilisieren.

Lesetipp: Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Propyläen, 384 S., 26€
Lesetipp: Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Propyläen, 384 S., 26€
© Propyläen

Doch 1929 kam die Weltwirtschaftskrise.

Genau. Sie hat Deutschland mit voller Wucht getroffen. Diese paar Jahre zwischen 1924 und 1929 waren einfach zu wenig, um eine politische Kultur mit großer demokratischer Widerstandskraft zu entwickeln, die einer erneuten schweren Krise standzuhalten vermag.

1923 steht exemplarisch dafür, wie Krisen eine Demokratie erschüttern können. Auch heute leben wir in einer Zeit der Dauerkrisen. Wie widerstandsfähig ist unsere Demokratie?

In Deutschland ist die Demokratie heute jedenfalls widerstandsfähiger als während der Weimarer Republik, schon allein deshalb, weil sie sich über Jahrzehnte in der Gesellschaft festigen konnte. Aber natürlich sind Demokratien nicht unangreifbar. Wie reagieren die Menschen, wenn die nächsten Winter sehr kalt werden, es nicht genug Gas gibt und Deutschland in eine schwere Rezession rutscht? Das kann niemand vorhersehen.

Aber welche Lehren über den Umgang mit Krisen lassen sich konkret aus Weimar ziehen?

Zum Beispiel, dass sozialer Friede für den Zusammenhalt einer Gesellschaft immens wichtig ist. In der Weimarer Republik haben Vertreter der jüdischen Gemeinde Deutschlands vom Staat eine Strategie gegen den zunehmenden Antisemitismus gefordert. Bildungsprogramme etwa und das Verbot von Hetzkampagnen. Politische Entscheidungsträger sind heute gut beraten, gesellschaftlichen Minderheiten zuzuhören und mehr zu tun gegen Hass und die Verbreitung von Vorurteilen in sozialen Netzwerken. Was sonst passieren kann, sehen wir in den USA.

Inwiefern?

Wir können dort beobachten, wie demokratische Werte und Normen nach und nach erodieren, denken wir an das Infragestellen von Wahlergebnissen oder das Diffamieren politischer Gegner. Da sehe ich durchaus Parallelen zu den letzten Jahren der Weimarer Republik. Damals hat sich Hitler nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch 1923, der ihn tief getroffen hat, immer weiter radikalisiert. Auch Donald Trumps politische Attacken wurden nach den verlorenen US-Wahlen 2020 wüster, bis heute verbreitet er Verschwörungstheorien, schürt Hass. Das heißt: Sollte er die Präsidentschaftswahlen 2024 gewinnen, wird er ein anderer, ein gefährlicherer Präsident sein als letztes Mal. In einem solchen Fall müssen wir damit rechnen, dass die Demokratie in den USA weiter beschädigt wird, dass Lügen propagiert und geglaubt werden, möglicherweise auch, dass Gewalt gegenüber politisch Andersdenkenden zunimmt.

Erschienen in GEO Epoche Panorama Nr. 23 (2022)

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