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von GEO EPOCHE

Kriegsbeginn 1914 Auftakt zum Desaster: Was wir aus dem Ersten Weltkrieg lernen können

Reservisten 1914 in einem Zug, auf dem in weißer Farbe unter anderem geschrieben steht: "Auf zum Preißschießen nach Paris"
"Auf zum Preißschießen nach Paris" steht auf dem Waggon geschrieben, als der Zug mit Berliner Reservisten im August 1914 die deutsche Hauptstadt Richtung Westfront verlässt. Weihnachten wollen die Männer spätestens wieder daheim sein
© Otto Haeckel / akg-images
Vor 110 Jahren, am 28. Juli 1914, endet mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien eine mehr als 40-jährige Friedenszeit in Westeuropa. Der an diesem Tag entbrennende Erste Weltkrieg wird Millionen Menschen ins Verderben reißen. Der Historiker Gerd Krumeich, Deutschlands führender Experte zum Thema, über die Konjunkturen der Erinnerung, den Erfolg von "Im Westen nichts Neues" und darüber, was wir heute aus der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" lernen können

GEOEPOCHE: Herr Professor Krumeich, haben Sie sich den Film "Im Westen nichts Neues" angesehen, der auf Erich Maria Remarques Roman basiert?

Prof. Dr. Gerd Krumeich: Nein, den habe ich mir nicht angesehen, absichtlich nicht. Ich habe natürlich mitbekommen, welcher Wind darum gemacht worden ist, und ich habe auch die Kritiken genau gelesen. Darin war immer wieder die Rede davon, dass der Film besonders kunstvoll in Szene setzt, wie eine Granate einen Körper zerreißt. Da habe ich mir gedacht: Das kenne ich zu gut, das muss ich mir nicht noch mal anschauen.

Spiegelt sich in diesem Erfolg ein wiedererstarktes Interesse am Ersten Weltkrieg, oder ist der Film nur eine Projektionsfläche für unsere aktuellen Kriegssorgen?

Ich kann kein neues Interesse feststellen. Wir haben ja gerade erst einen gewaltigen Hype hinter uns. Zum 100. Jubiläum des Kriegsausbruchs im Jahr 2014 und dann bis 2018 ist eine regelrechte Lawine abgegangen. Das war vorher nicht abzusehen. Es gab etliche Ausstellungen und natürlich die Debatte über das Buch "Die Schlafwandler" meines Kollegen Christopher Clark.

Dieses Buch war mit mehreren Hunderttausend verkauften Exemplaren ein sensationeller Erfolg. Wie erklären Sie sich das?

Das war mehr als eine Sensation, es war eine Revolution! Aber warum kaufen so viele Menschen ein wissenschaftliches Buch, das keiner von ihnen auch nur zur Hälfte lesen wird? Ich habe viel darüber nachgedacht und diskutiert, was das bedeutet. Ich kann es mir nur so erklären: Clark hat den Deutschen die Antwort auf ein sehr lange verdrängtes Problem geliefert. Er hat uns von der Schuld erlöst – der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mag Christopher Clark, auch wenn ich ihn scharf kritisiert habe. Er hat ein fantastisches Buch geschrieben und ist auch sonst ein großartiger Historiker, aber wie die Deutschen seine "Schlafwandler" gefeiert haben, das war schon wirklich erstaunlich.

Porträtbild des Historikers Prof. Dr. Gerd Krumeich
Prof. Dr. Gerd Krumeich, Jg. 1945, hat bis 2010 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gelehrt. Sein Buch "Als Adolf Hitler den Ersten Weltkrieg gewann" ist 2024 bei Herder erschienen
© Gerd Krumeich / privat

Wie würden Sie heute den Forschungskonsens zum Kriegsausbruch beschreiben? Es gibt keine deutsche Alleinschuld, sondern unterschiedliche Grade der Verantwortung für die Katastrophe – kann man das so sagen?

Ja, durchaus. Es gibt zwar immer noch Auseinandersetzungen, etwa um die Frage, ob die Deutschen wirklich eingekreist worden sind oder sich selbst ausgekreist haben, beziehungsweise ob sie sich irrigerweise nur eingekreist gefühlt haben. Dagegen steht die Ansicht, dass man sich in Deutschland in den Vorkriegsjahren mit einer aggressiven Außenpolitik der anderen hat auseinandersetzen müssen.

"Die Deutschen haben allerdings im Juli 1914 die Lunte ans Pulverfass gelegt. Das ist mein Standpunkt."

Und wo stehen Sie selbst in dieser Frage?

Um ein altes Bild zu bemühen: Alle europäischen Mächte haben bedenkenlos nur ihre eigenen Interessen verfolgt und damit dazu beigetragen, das sprichwörtliche Pulverfass zu füllen. Die Deutschen haben dann allerdings im Juli 1914 die Lunte ans Pulverfass gelegt. Das ist mein Standpunkt.

Die Julikrise ist nun 110 Jahre her. Welchen Platz hat der Erste Weltkrieg heute noch in der kollektiven Erinnerung?

Ich glaube, man weiß durch den Jubiläums-Hype, der ja bis 2018 angehalten hat, wieder, wie wichtig der Erste Weltkrieg für die deutsche Geschichte gewesen ist. Das war vorher für das große Publikum so offensichtlich nicht.

Wirklich nicht?

Es gab natürlich durchaus Interesse an den Gründen, die zum Krieg geführt haben, aber das Kriegserlebnis im weitesten Sinne war vorher bei uns kein Thema. Auch Remarques Roman "Im Westen nichts Neues" wurde lange nicht mehr diskutiert. Der Erste Weltkrieg als ein bluttriefendes Ereignis, das Schicksal der Soldaten, das man anhand von Quellen nachempfinden kann, rückte erst Ende Anfang der 1990er Jahre in den Fokus.

"Remarque war damals so erfolgreich, weil er bei den Deutschen ein angestautes Bedürfnis stillte."

Remarques Werk beruht ja auch auf eigenen Kriegserlebnissen. Als er es 1928/29 veröffentlichte, stieß es auf enormes Interesse. Wieso?

Das ist die große Frage, nach wie vor. Das Interesse kam in gewisser Weise aus heiterem Himmel. Vorher hatte sich kaum jemand um die Erlebnisse der Soldaten geschert, und nun konnte das Publikum nicht genug davon bekommen. Für mich steht fest: Remarque war damals so erfolgreich, weil er bei den Deutschen ein angestautes Bedürfnis stillte.

So wie Christopher Clark?

Nun, wenn Sie so wollen, spielte bei Remarques Erfolg die Psychologie auch eine gewisse Rolle: Er füllte damals eine Fehlstelle in der kollektiven Erinnerung. Er ist es, der das häufig beklagte Schweigen über den Krieg zum ersten Mal durchbricht. Und das ist wirklich eine Art Traumalösung. Zehn Jahre nach den schlimmen Erlebnissen sind die Menschen endlich fähig, darüber zu reden und sich so davon zu lösen. Und das geht weit über Remarque hinaus. Da ist ja auch noch die Denkmalswelle, die ungefähr zur gleichen Zeit beginnt. Das ist ebenfalls ein Zeichen, dass sich die Menschen ganz neu für den Krieg interessieren. Das liegt übrigens nicht nur am Jubiläum des Kriegsendes, an der runden Zahl, sondern auch daran, dass sich nun die Generation der Kriegskinder mit dem Thema beschäftigt. Und die wollten mit den Wehleidigkeiten der "Alten" nichts mehr zu tun haben, fielen auf den Nazi-Jargon von Kraft, Härte, Rücksichtslosigkeit herein und glaubten, man könne sich im Krieg als Mann beweisen.

Gleichzeitig löste Remarque einen Skandal aus. Warum provoziert "Im Westen nichts Neues" vor allem die Rechten so?

Weil die Soldaten darin nicht heroisch sind. Dieses im Gefühl und im Dreck wühlen, also den Krieg, wie Joseph Goebbels immer wieder sagt, "durch die Klobrille" zu sehen, das ist es, was die Nazis und die Rechten so stört. Die Soldaten, die das Buch kritisieren, hingegen sagen: Das wissen wir doch alles, wir haben alle zusammen auf dem Donnerbalken gesessen, aber das muss man doch nicht ins Zentrum stellen, das Wichtigste ist doch, wie wir unter Beschuss zusammengehalten haben, wie wir es ertragen haben, dass um uns herum die Kameraden starben und man trotzdem Mann geblieben ist. Das ist der Diskurs. Macht uns den Krieg nicht schlecht, denn dieser Krieg war notwendig, um Deutschland zu schützen.

"Ich habe diesen Krieg erlebt, es war ein heroischer Krieg, und wir sind auch nicht besiegt, sondern nur verraten worden. Das ist Hitlers Mantra."

Hitler war selbst Veteran. Haben die Nazis von der Kriegserinnerung profitiert?

Am allermeisten. Es gibt keine Hitler-Rede – und ich habe sie gerade alle für mein nächstes Buch lesen müssen –, in der er nicht vom Krieg spricht. Es ist das mobilisierende Thema. Wir sind unschuldig an diesem Krieg, ich habe diesen Krieg erlebt, es war ein heroischer Krieg, und wir sind auch nicht besiegt, sondern nur verraten worden. Das ist Hitlers Mantra. Und das wird von den Leuten zu Tausenden bejubelt. Wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, an dem die NSDAP noch eine Splitterpartei ist.

Und nach 1933?

Da haben die Nazis Kriegerdenkmäler aus dem Boden gestampft. Die allermeisten von denen, die wir heute noch haben, stammen aus jener Zeit. Wenn Sie in Hamburg aus Ihrem Fenster gucken, dann sehen Sie vielleicht das Kriegerdenkmal des 76er Infanterie-Regiments.

Ein Klotz, der ziemlich nationalsozialistisch ausschaut.

Dabei ist der Spruch, der darauf steht – "Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen" –, gar kein Nazi-Spruch. Es ist ein Zitat aus dem beliebtesten Lied des Jahres 1914 in Deutschland, dem "Soldatenabschied" des Dichters Heinrich Lersch. Der Trick des NS-Regimes war, bei diesen Denkmälern, die ja alle Deutschen betrafen, auf die NS-Symbolik zu verzichten. Die Nazis waren schlau: Sie wollten die Deutschen nicht wieder verschrecken.

"In Deutschland konnte man nach 1945 keine Bücher mehr über den Ersten Weltkrieg verkaufen."

Der Zweite Weltkrieg endete in der Niederlage. War damit die Erinnerung an den Ersten verschüttet?

In Deutschland ganz eindeutig. Die Zivilbevölkerung lebte in den Trümmern und hatte genug zu tun mit ihrem eigenen Leid. Die Erzählungen der Soldaten wollte keiner mehr hören. In Deutschland konnte man nach 1945 auch keine Bücher mehr über den Ersten Weltkrieg verkaufen.

Und dann erschien 1961 "Griff nach der Weltmacht" von Fritz Fischer. Eine Sensation?

Eher nicht. Es wurde zwar in den Feuilletons diskutiert und hat eine lang anhaltende Historikerkontroverse nach sich gezogen, aber eine historisch-politische Sensation war das Buch sicher nicht. Dafür war es auch einfach zu schlecht.

Inwiefern?

Fritz Fischer war zu deutschlastig. Er hatte keinerlei vergleichenden Blick. Ich bin übrigens schon als 17-Jähriger mit ihm aneinandergeraten. Das war bei einem Vortrag in Düsseldorf. Da behauptete Fischer, dass es zwischen dem Programm von Theobald von Bethmann Hollweg, dem Kanzler, und den radikalen Alldeutschen nur "Nuancen" gebe. Ich habe daraufhin aufgezeigt und gesagt: Albert Camus zufolge liege die Wahrheit doch gerade in den Nuancen. Vom Publikum gab es Applaus, aber Fischer hat mir nie verziehen. Dabei trifft die Anekdote genau ins Schwarze.

Aber ein Tabu hat das Buch doch gebrochen, oder?

Es hat das Tabu vom deutschen Verteidigungskrieg gebrochen, das damals noch von der älteren Historikergeneration hochgehalten wurde. Die waren entsetzt, dass Deutschland, wie von Fischer behauptet, aus imperialistischen Gründen zum Krieg gegriffen habe. Was auch nicht stimmt. Fischer hat einfach zu viel Lärm um das Kriegszielprogramm der Regierung Bethmann Hollweg gemacht – das ist aber erst nach Kriegsbeginn entstanden!

Hat das Buch trotzdem die Forschung vorangebracht?

Durchaus, weil man es nun genauer wissen wollte. Vor allem die Politik, die zum Kriege geführt hat, wurde stärker zum Thema. Kriegserlebnis und Kriegswirklichkeit dagegen nicht.

"Für die Zeitzeugen hat man sich damals nicht interessiert. Aus heutiger Sicht ist das ein großes Versäumnis."

Obwohl ja noch Zeitzeugen gelebt haben … 

Nun, das mache ich mir auch unendlich zum Vorwurf. Man hat sich für sie nicht interessiert. Aus heutiger Sicht ist das ein großes Versäumnis, aber jede Zeit hat nun mal ihre blinden Flecken. Es braucht immer wieder neue Generationen, die genauer hinschauen. Sonst gäbe es keine Entwicklung in der Geschichtswissenschaft.

Gibt es etwas, das wir aus dem Ersten Weltkrieg für unsere Gegenwart lernen können?

Ja! Nach Clausewitz ist der Krieg ein „Chamäleon“. Du sollst nie glauben, du hast ihn im Griff. Der Krieg entwickelt immer wieder neue Seiten, und du kannst ihn nur bis zur ersten Schlacht planen. Und weil du ihn nicht voraussehen kannst, solltest du ihn besser sein lassen, denn ihm wachsen wie der Hydra, dem Monster aus der griechischen Sage, immer neue Köpfe.

Erschienen in GEO EPOCHE Panorama Nr. 24 "Jahrestage 2024" (2023)

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