Tief im Inneren der Gargas Höhle in den Pyrenäen Südfrankreichs jagen Pferde, Bisons und Mammuts über die Felswände. Natürlich in prähistorischen Gemälden und Gravuren. Daneben befinden sich Hunderte Handabdrücke, so genannte Schablonen, die von Menschen vor Zehntausenden Jahren angefertigt wurden, in dem sie rote und schwarze Farbe über ihre Hände spuckten.
Solche Motive finden Forschende an antiken Stätten auf der ganzen Welt. Die Handumrisse aus Frankreich weisen jedoch eine Besonderheit auf: die Hände scheinen verletzt zu sein, manchmal fehlen ganze Finger, manchmal einige Fingerglieder.
Collards These war am Anfang sehr umstritten
Seit vielen Jahren rätseln Forschende über die Ursache für die verstümmelten Finger. Der kanadische Archäologe Mark Collard stellte nun kürzlich auf einer Konferenz in Zagreb mit seinem Team eine weitere Theorie vor. Er hält es sich für wahrscheinlich, dass sich die Steinzeitmenschen ihre Finger aus rituellen Gründen selbst amputiert haben.
Collard wiederholte damit eine These, die er schon vor einigen Jahren erstmals formuliert hatte. Sie wurde damals von vielen seiner Kollegen zurückgewiesen. Der Einwand: Unter den harten Bedingungen des Jungpaläolithikums hätten Menschen mit beeinträchtigten Extremitäten kaum überleben können. Eine Selbstverstümmelung wäre lebensbedrohlich gewesen. Vielleicht seien die fehlenden Finger einfach ein Hinweis auf Erfrierungen.
Collard und sein Team von der Simon Fraser University bei Vancouver haben weitere Belege für ihre These gesammelt. So merkt Collard an, wenn Erfrierungen die Ursache gewesen seien, müsste man entsprechende Spuren überall dort finden, wo es in der Steinzeit schweren Frost gegeben habe. Tatsächlich finden sich die auffälligen Schablonen aber nur in wenigen Höhlen in Frankreich und Spanien – dort aber sehr gehäuft. Ein Hinweis auf ein Ritual.
In Gargas zählte man 231 Handbilder, bei 114 von ihnen fehlt mindestens ein Fingersegment. In einer anderen französischen Höhle, der von Cosquer, sind 49 Handbilder zu finden, 28 davon zeigen fehlende Fingersegmente. Und im westspanischen Maltravieso sind 61 von 71 Handschablonen "verstümmelt". Diese Höhlen werden der Gravettien-Kultur zugerechnet, deren Jäger und Sammler vor etwa 25.000 Jahren auf dem europäischen Festland lebten.
Noch heute schneiden sich Menschen rituell Finger ab
Mark Collard durchforstete außerdem ethnografische Datenbanken. Dort fand er 121 Gesellschaften, in denen Finger und Fingerglieder aus rituellen Gründen abgetrennt wurden – bis in die Gegenwart hinein. Insgesamt machte das Team um Collard zehn Gründe aus, warum Volksgruppen ihren Mitgliedern Finger amputierten. Dazu zählten unter anderem die Verstümmelung als Zeichen der Gruppenidentität und als Strafe. In einigen Gesellschaften entfernen die Menschen freiwillig einen Finger, wenn sie trauern.
Bis heute amputieren sich beispielsweise Frauen des Dani-Volkes im Hochland von Neuguinea einen Finger, wenn ein Verwandter, insbesondere ein leibliches Kind, stirbt. Der kanadische Archäologe ist überzeugt, dass es eine ähnliche Praxis bereits vor mehr als 20.000 Jahren gab. Er vermutet ein religiöses Opfer-Ritual.
Seine neuen Belege stellte er auf der Jahrestagung der European Society for the Study of Human Evolution vor. Seine Fachkollegen allerdings bleiben weiterhin skeptisch. Neben den Erfrierungen gibt es noch weitere Erklärungen für die fehlenden Finger in den Handsilhouetten. Was, wenn die Hände eigentlich intakt waren, die Höhlenbewohner vor dem Zeichnen allerdings einen oder mehrere Finger einknickten, und dann erst die Schablone anfertigten?
Verbirgt sich hinter den Abdrücken eine steinzeitliche Gebärdensprache?
Handschablonen gelten als die ersten Zeichen einer visuellen Kultur von Menschen. Sie sind älter als Bilder von Tieren, von Jagd- und Alltagsszenen. Und häufig findet man die Handabdrücke tief in den Höhlen, in schwer zugänglichen Bereichen. Das deutet für einige Forschende darauf hin, dass diese Bilder eine besondere Bedeutung hatten. Sie vermuten hinter den "abgeknickten" Fingern absichtliche Muster, eine steinzeitliche Gebärdensprache, versteckte Codes, mit denen sich die Menschen der Steinzeit auf Gefahren oder mögliche Verstecke hinwiesen. Vielleicht sind die verstümmelten Hände sogar das mit Abstand älteste bekannte Schriftsystem.
Doch noch ein weiteres Rätsel bezüglich der Handschablonen treibt die Archäologen um. Wie US-Anthropologen herausfanden, stammen die meisten der Zeichnungen in den französischen und spanischen Höhlen von Frauen. Auch dafür wurde noch keine letztendliche Erklärung gefunden.