Anzeige

Madagaskar Im Leben bleiben: Vom menschlichen Umgang mit der Demenz

Tonton Jean Paul Randriambelomo sitzt im Schlafzimmer auf seinem Bett
Im Gegensatz zu vielen Betroffenen auf Madagaskar weiß Jean-Paul Randriambeloma, 85, dass er an der Alzheimer-Krankheit leidet und was auf ihn zukommt. Er gehört zu den wenigen, die sich eine ärztliche Versorgung leisten können. Seine Geschichte wird im letzten Teil des Artikels erzählt
© Lee-Ann Olwage
Demenz ist den Menschen in Madagaskar so fremd, dass ihre Sprache kein Wort dafür kennt. Doch immer mehr leiden dort an der Krankheit des Vergessens, werden oft für verrückt gehalten und weggesperrt. In der Hauptstadt des bitterarmen Landes gibt eine Organisation ihnen Hoffnung, begleitet die Alten und deren Angehörige. Von Eltern, die zu Kindern werden, und der Kraft, die in der Gemeinschaft liegt
Text: Charlotte Köhler, Fotos: Lee-Ann Olwage

Mit der bloßen Hand umschließt Dada Paul die scharfe Klinge und kratzt Schuppen von einem toten Fisch. Seine Finger zittern, doch am Ende wird nicht eine einzige Schuppe auf dem Buntbarsch bleiben, weil er diese Arbeit schon als Junge beherrschte; und weil er, gleich nachdem er den Fisch zurück in die Schüssel legt, vergisst, dass er ihn schon bearbeitet hat.

Vor dem Haus brennt längst das Feuer für den Kochtopf. Fara Rafaraniriana krempelt ihrem Vater die Hemdärmel hoch, geduldig, wie eine Mutter bei ihrem störrischen Kind, damit er sich bei der einen Sache, die ihn beruhigt, nicht gestört fühlt.

Paul Rakotozandriny, den alle in der Gemeinde Ivato aus Respekt Dada "Papa" Paul nennen, war 80, als seine Tochter Fara das erste Mal bemerkte, dass etwas anders war, er anders war. Jeden Abend holte er sie von der Arbeit ab, darauf hatte er immer bestanden, bis er eines Tages den Weg nicht mehr fand und vor fremden Häusern parkte. Elf Jahre sind seitdem vergangen, er ging in Rente und vergaß es wieder, bekam eine Enkeltochter, verlor seine Frau, dann die Erinnerung an sie. Nur manchmal scheint er sie in den Gesichtszügen seiner Tochter zu entdecken, dann ruft er Fara beim Namen ihrer Mutter.

Fast alle seine Kinder halten Dada Paul für verrückt

Neun Jahre wusste niemand, dass er an Demenz leidet. Seine zehn Kinder waren überzeugt, er sei verrückt geworden oder hätte zu trinken angefangen, wenn er schwankte, hinfiel, sich verlief oder seine Frau im Haus suchte, die bereits verstorben war. Nur seine Tochter Fara Rafaraniriana hielt zu ihm: "Er hat mich mein ganzes Leben lang geliebt, wie könnte ich jetzt damit aufhören?"

Tonton Jean Paul Randriambelomo sitzt im Schlafzimmer auf seinem Bett
Im Gegensatz zu vielen Betroffenen auf Madagaskar weiß Jean-Paul Randriambeloma, 85, dass er an der Alzheimer-Krankheit leidet und was auf ihn zukommt. Er gehört zu den wenigen, die sich eine ärztliche Versorgung leisten können. Seine Geschichte wird im letzten Teil des Artikels erzählt
© Lee-Ann Olwage

Weil Sonntag ist, zieht Dada Paul einen feinen Anzug an. Der braune Gürtel, in den sie neue Löcher stechen mussten, hält die Hose auf den Hüften; Kilo um Kilo hat er mit der Zeit verloren. Seine Füße stecken in Turnschuhen, auf dem Kopf trägt er sein Markenzeichen: einen Hut mit weißem Band und der Aufschrift "Victoria’s Secret". Obwohl er auf dem löchrigen Pflaster nur winzige Schritte macht, ist sein Gang zur Kirche ein Auftritt. Mit den Händen in den Taschen der Anzughose könnte er ein Schauspieler auf dem roten Teppich sein. Alle paar Meter rufen Menschen seinen Namen, ein Mann drückt ehrfürchtig seine Hand, ein anderer küsst ihn auf die rechte und die linke Wange. In Ivato ist Dada Paul eine Art Legende. Sein Engagement für die Gemeinde vergisst hier niemand, auch wenn er selbst nichts mehr davon weiß.

Mehr zum Thema