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Wahrnehmung Möglicher sechster Geschmackssinn entdeckt: für Salzlakritz

Salzlakritz in einem Glas udn auf einem Tisch verstreut
Salzlakritz löst bei den allermeisten Menschen instinktiv Ekel aus – es sei denn, sie haben sich daran gewöhnt. In Skandinavien etwa ist es äußerst beliebt
© Amy Mitchell / Adobe Stock
An Salzlakritz oder "Salmiak" scheiden sich die Geister. Die einen lieben es, die anderen hassen es. Forschende haben nun entdeckt, dass wir auf der Zunge eigens einen Rezeptor dafür haben. Womöglich sind sie sogar einem sechsten Grundgeschmack auf der Spur, der uns bis heute das Überleben sichert

Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte der japanische Wissenschaftler Kikunae Ikeda neben süß, sauer, bitter und salzig den fünften Grundgeschmack "umami". Doch es dauerte rund 80 Jahre, bis seine Entdeckung anerkannt wurde. Seither wird nach weiteren Geschmäckern gefahndet – und gestritten.

Auf der Favoritenliste für den sechsten Platz stehen zum Beispiel Fett, Kohlensäure und Stärke. Nun hat ein US-Forschungsteam um die Neurowissenschaftlerin Emily Liman von der University of Southern California einen weiteren Kandidaten ins Rennen geschickt, wie es in Nature Communications berichtet.

Das Team fand Hinweise darauf, dass die Geschmacksknospen der Zunge, die "sauer" schmecken, auch auf das Salz Ammoniumchlorid reagieren. Ammoniumchlorid oder "Salmiaksalz" wird vor allem in Skandinavien traditionell als Würze in Salzlakritz verwendet.

Schon länger war bekannt, dass viele Tierarten, vom Fadenwurm über Fliegen bis zum Menschen, empfindlich auf Ammonium reagieren. Auch ammoniumhaltiges Salmiaksalz löst bei den meisten Menschen instinktiv Ekel aus, der aber kulturell durch Gewöhnung überwunden werden kann – siehe Skandinavien. Trotz der starken Reaktion war bisher unklar, ob Ammonium, beziehungsweise Ammoniumchlorid, einen singulären Reiz auf der Zunge auslöst.

Ein auf Säureerkennung spezialisierter Rezeptor ist der Schlüssel

Mit Hilfe von genetisch veränderten Mäusen gelang dem Team nun der Durchbruch. Die Forschenden nahmen einen Rezeptor namens "Type III TRC" in den Blick. Dieser sitzt in den Geschmacksknospen der Zunge und ermöglicht es uns, saure Geschmäcker wie Zitrone, Essig oder Limonade zu schmecken.

Type III TRC besitzt in seiner Zellmembran den erst 2018 entdeckten Protonenkanal "OTOP1", mit dessen Hilfe er Säuren detektiert. Durch diesen Kanal können Protonen (= positiv geladene Wasserstoffionen) ins Zellinnere strömen. Wer im Chemieunterricht aufgepasst hat, weiß vielleicht noch, dass Säuren Protonen abgeben. Insofern ist es logisch, dass unsere Zunge einen Weg gefunden hat, Protonen und damit den Geschmack von Säure zu erkennen.

Dieser Mechanismus dient anscheinend auch dazu, Ammonium zu detektieren: Wird Ammoniumchlorid in Wasser (oder Speichel) gelöst, entsteht Ammoniak, das von den Rezeptorzellen aufgenommen wird. Ammoniak wirkt basisch, dadurch sinkt der Säuregehalt innerhalb der Zelle. Daraufhin strömen vermehrt Protonen durch den OTOP1-Kanal, die den Säuregehalt wiederherstellen – und ein Nervensignal auslösen: einen Geschmacksreiz.

Die Geschmacksknospen von Mäusen lieferten den entscheidenden Beweis

Um diesen Zusammenhang nachzuweisen, machten die Forschenden drei aufeinanderfolgende Experimente: Zunächst veränderten sie menschliche Zellen im Labor genetisch so, dass sie verstärkt OTOP1-Protonenkanäle bildeten. Dann setzten sie die Zellen entweder Säure oder Ammoniumchlorid aus. "Wir sahen, dass Ammoniumchlorid ein sehr starker Aktivator des OTOP1-Kanals ist", resümiert Liman im Online-Magazin Neuroscience News. "Es aktiviert genauso gut oder besser als Säuren."

Im nächsten Schritt testeten die Forschenden ihre Hypothese an Geschmackszellen von Mäusen. Dazu verglichen sie normale Mauszellen mit solchen, die genetisch so verändert worden waren, dass sie keine OTOP1-Kanäle mehr bildeten. Anschließend maßen sie, ob die Zellen elektrische Nervensignale aussenden, wenn sie Ammoniumchlorid ausgesetzt werden. Das Ergebnis: Zellen mit OTOP1-Kanälen, produzierten ein starkes elektrisches Signal. Zellen ohne OTOP1-Kanäle blieben stumm.

Gentechnisch veränderte Mäuse tolerieren große Mengen Ammoniumchlorid

Im dritten Schritt testeten die Forschenden, wie lebende Mäuse reagieren, wenn man ihnen Wasser mit Ammoniumchlorid und normales Wasser anbietet. Dazu wurden zunächst bei allen Mäusen die Bitterrezeptoren ausgeschaltet, da Ammoniumchlorid möglicherweise auch diese stimulieren kann. Das hätte das Ergebnis verfälscht.

Im anschließenden Versuch mieden Mäuse mit intakten OTOP-1-Kanälen das verunreinigte Wasser. Gentechnisch veränderte Mäuse ohne OTOP-1-Kanäle dagegen tranken sogar Wasser mit hohen Ammoniumchlorid-Konzentrationen. "Das war der eigentliche Knackpunkt", erläutert Liman in Neuroscience News, "es hat gezeigt, dass der OTOP-1-Kanal essenziell ist, um die Verhaltensreaktion auf Ammonium zu erklären."

In weiteren Untersuchungen stellten die Forschenden zudem fest, dass zwar viele unterschiedliche Tierarten auf Ammoniumchlorid reagieren, aber nicht alle in gleichem Maße. Hühner zeigen zum Beispiel eine stärkere Abneigung als Fische. Das könnte daran liegen, spekuliert Liman, dass Hühner, ähnlich wie Menschen, in ihrem Lebensraum häufiger mit schädlichen ammoniumreichen Substanzen in Kontakt kommen. Ammonium entsteht beim Abbau von Eiweißen und deutet zum Beispiel auf Fäulnisprozesse oder Fäkalien hin. Deshalb hat sich der Warnmechanismus bei einigen Tieren im Laufe der Evolution wahrscheinlich stärker entwickelt.

Ist die Abneigung gegen Ammonium überlebenswichtig?

Für diese Hypothese spricht, dass offenbar eine bestimmte Aminosäure im OTOP-1-Kanal dafür verantwortlich ist, wie stark oder schwach er auf Ammoniumchlorid reagiert. Und genau diese eine Aminosäure hat sich im Laufe der Evolution bei einigen Spezies verfestigt. Heißt: Sie scheint überlebenswichtig zu sein.

Als Nächstes wollen sich die Forschenden verwandte OTOP-Protonenkanäle vornehmen, die in anderen Körpergeweben vorkommen. Beispielsweise im Darm. Denn auch die Mikroorganismen, die unseren Dickdarm besiedeln, produzieren Ammonium. Und dass auch der Darm "schmecken" kann, ist schon länger bekannt. Sollte Ammoniumchlorid den Wettlauf um den sechsten Geschmack doch nicht gewinnen, könnte die Entdeckung seines Rezeptors zumindest dazu beitragen, dem noch weitgehend unverstandenen Verdauungsorgan weitere Geheimnisse zu entlocken.

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