Anzeige

Mensch und Natur "Der Wanderer über dem Nebelmeer": Warum die Romantik-Ikone das Bild der Stunde ist

Der Mensch auf dem Gipfel – oder am Abgrund: C.D. Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer"
Der Mensch auf dem Gipfel – oder am Abgrund: C.D. Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer"
© akg-images
Caspar David Friedrichs Gemälde "Der Wanderer über dem Nebelmeer" ist längst ein Popstar – und muss nun auch für Klima-PR herhalten. Das ist nicht ganz unpassend, verstellt aber den Blick in die rätselhafte Tiefe des Bildes: Eine Tiefe, die uns heute vielleicht noch mehr bedrängt als die Zeitgenossen des Malers

In Hamburg ist er ein Star: Der "Wanderer über dem Nebenmeer". Das Gemälde von Caspar David Friedrich aus dem Jahr 1817 ist nicht nur das Urbild zahlloser Insta-Fotos in Rückenansicht vor grandioser Natur. Es ist auch einer der Publikumsmagnete der großen CDF-Schau, die in diesen Tagen zu Ende geht – nach einem beispiellosen Besucheransturm, angefacht durch eine Inszenierung:

Vor einem Jahr versuchten Aktivistinnen der Letzten Generation, das Bild mit einer zeitgenössischen Interpretation zu überkleben. Das Nebelmeer, auf das der Wanderer herabsah, glich in der Klebe-Version einem Flammenmeer: unschwer als Kommentar zur Klimakrise und den Waldbränden in der Sächsischen Schweiz zu erkennen. Die Aktion wurde von einem Wachmann vereitelt, und es kam, wie es kommen musste: Statt über das Klima wurde öffentlich darüber debattiert, ob es legitim sei, für den Klimaschutz wertvolle Kunstgegenstände zu gefährden und den Museumsfrieden zu stören. (Übrigens entstand, wie bei ähnlichen Aktionen zuvor, kein Schaden.) Für viele verblüffend, stellte sich der Direktor der Kunsthalle schützend nicht etwa vor das ikonische Gemälde – sondern vor die Aktivistinnen.

Im Endeffekt sei diese Aktion "großes Marketing für eine Sache, die uns alle angeht", sagte Alexander Klar in einem Interview. Und für das Museum natürlich auch. Schließlich versuchten die Ausstellungsmacher, Friedrich, den "Maler der deutschen Seele", als Inspiration für den heutigen Umwelt- und Klimaaktivismus zu präsentieren. Da passte die Intervention der Letzten Generation ganz gut.

Nun ist es zweifelllos richtig, dass die Klimakrise gegenwärtig und perspektivisch eines der größten, wenn nicht das größte Problem der Menschheit darstellt. Doch die Vereinnahmung des populären Gemäldes riecht nach PR, die letztlich auch dem Museum hilft. Leider hilft sie nicht, das Bild zu verstehen.

Die zentrale Rückenfigur als radikale Bildidee

Friedrichs Idee ist radikal: Wohl nie zuvor hatte ein Maler eine Rückenfigur derart prominent in den Mittelpunkt einer Landschaft gesetzt. Alles zeigt auf den Mann mit dem heroisch verwehten Haar, alles läuft in ihm zusammen. Die Linien zweier dunstiger Berghänge in der Ferne schneiden sich exakt in seinem Herzen. Radikal ist auch, was der Mann tut: nichts. Er steht einfach nur da und schaut. Aber nicht einmal das wissen wir sicher. Denn da wir sein Gesicht nicht sehen, können wir nicht wissen, ob er die Augen offen hat. Ob er staunt oder eher gelangweilt dreinschaut. Was in ihm vorgeht, können wir noch viel weniger wissen. Denkt er an seine Frau? An das Mittagessen, das er gerade verpasst? Fragt er sich, wie die ungewöhnliche geologische Formation rechts der Bildmitte wohl entstanden ist? Denkt er über sein Leben nach oder über die Unendlichkeit? Klar ist nur: Er ist für uns Betrachtende die perfekte Identifikationsfigur. Er lädt dazu ein, mit ihm, durch ihn die Landschaft, die Szene, den Moment zu erleben.

Aber da ist noch etwas anderes: Der Typ nervt. Er steht nämlich buchstäblich im Bild, er verdeckt eine traumhaft schöne Aussicht, die wir jetzt gerne hätten. Jeder Maler, jede Naturfotografin würde ihn in der konkreten Situation bitten, kurz zur Seite zu gehen. Überhaupt: Gehört der eigentlich hierher? Die Kleidung verrät, dass der Mann hier nicht beruflich zu tun hat. Er ist kein Jäger und sorgt sich vermutlich auch nicht um den Zustand der Kiefern, auf die er – vielleicht – herabblickt. Sehr wahrscheinlich macht er sich auch wegen des Klimas keine Sorgen. Die menschengemachte Erderwärmung und ihre potenziell katastrophalen Auswirkungen wurden von der Forschung erst im Lauf des 20. Jahrhunderts anerkannt.

Er ist offenbar ein Spaziergänger oder Ausflügler – das Wandern kam damals erst in Mode – aus der Stadt. Aus jener Sphäre also, die noch heute, und heute mehr denn je, als das der ursprünglichen Natur diametral Gegenüberstehende gedacht wird. Als vom Menschen gebaute, künstliche Um-Welt. Als das Bild entstand, war die Dampfmaschine längst erfunden, das industrielle Zeitalter mit seinen wachsenden Metropolen, Fabriken und Arbeitervierteln warf seine Schatten voraus.

Aus dieser Kunstwelt ist unser Mann ausgebrochen und blickt nach einem mühsamen Aufstieg auf das, was er vielleicht für ursprüngliche Natur hält. Aber nicht etwa demütig. Sondern eher in Feldherrenpose. Fühlt er sich überlegen, vielleicht als Beherrscher der Natur? Das wäre deplatziert, denn er steht nur einen Schritt vom Abgrund entfernt. Über die ziehenden Nebelschwaden hat er genauso wenig Gewalt wie über die Tagereisen entfernten Gipfel in der Ferne. Alles, was in diesem einen, festgehaltenen Moment zu sehen ist, wird es auch 50 Jahre später noch geben, die Felsen werden unverändert sein, die meisten Bäume noch stehen, Nebelschwaden werden ziehen. Aber der Wanderer, Dreh- und Angelpunkt dieses Bildes, wird weg sein.

Hinweise zum Verständnis geben vielleicht ähnlich radikale, monumentale Werke, die Friedrich vor und nach dem "Wanderer" gemalt hat: Der "Mönch am Meer" (1810) und das "Eismeer" (1824). Über den einsamen Mann am dunklen, abweisenden Meer, mit seinen Fragen ganz auf sich selbst zurückgeworfen, schrieb Friedrich in einem Brief: "Tief zwar sind deine Fußstapfen am öden sandigen Strande; doch ein leiser Wind weht darüber hin, und deine Spur wird nicht mehr gesehen: Törichter Mensch voll eitlem Dünkel!" Als törichte, "gescheiterte Hoffnung" (so der alternative Titel des Bildes von 1824) malt Friedrich später einen Schiffbruch im Eismeer. Die Natur, hier in Gestalt gigantischer Eisschollen, ist stärker als die hölzerne Nussschale von einem Segelschiff. Da mag das Heck auch noch so schön geschnitzt und bemalt sein. Unschwer zu dechiffrieren, nimmt Friedrich in beiden Bildern die menschliche Hybris aufs Korn.

Wir wissen heute: Friedrich hat sich wohl von einer kurz zuvor gescheiterten Expedition zur Erkundung der Nordwestpassage inspirieren lassen. Entdeckt und befahren wurde der Seeweg zwischen Atlantik und Pazifik später trotzdem, zuerst wind-, dann dampf-, dann schwerölgetrieben. Industrie und globaler Warenverkehr haben Dinge billiger und Menschen, nicht nur in den Städten, reich gemacht. Aber um welchen Preis? 

Ist unser Mann in der Feldherrenpose vielleicht ein Gescheiterter – und weiß es nur nicht? Und was hätte das mit uns zu tun? Mit diesen Fragen lässt uns das Bild allein. Das ist das Beunruhigende. Und das Geniale.

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel