Kann Stadtplanung glücklich machen?
Kann Stadtplanung glücklich machen? Ließe sich ein Stadtteil auf einer leeren Fläche so erfinden, dass er nicht steif und kalt wirkte, sondern belebt und urban - gleichzeitig Heimat wäre und ein Magnet für Touristen, ein Idyll und ein Wachstumsmotor, besonders und bewohnbar? Wäre das möglich: ein lebendiges Stück Stadt aus der Retorte zu erschaffen? Mit kleinem Gepäck ziehe ich für eine Woche in die Hafencity, um dieser Frage nachzugehen. Hier, zwischen Elbe und Innenstadt, auf brach gefallenem Gebiet des einstigen Freihafens, versucht Hamburg bis zum Jahr 2025 eine Stadt in der Stadt zu planen, mit Museen und Schulen, Restaurants und Geschäften, Promenaden und Parks, für 12.000 Bewohner und 40.000 Angestellte.
Ein neues Zentrum
Als zweites, architektonisch aufregendes Zentrum soll die Hafencity einmal weit über die Stadt hinausstrahlen, 18 Millionen Touristen jährlich anziehen und Hamburgs Anspruch als Weltstadt erneuern. Mein neues Zuhause ist der Sandtorkai. Hinter der historischen Speicherstadt stehen die ersten acht fertig gestellten Solitäre wie Startblöcke am Wasser. Von unterschiedlichen Architekten modern und mit viel Glas gestaltet, erweisen dennoch alle den roten Backsteinnachbarn ihre Referenz. Von orange über ochsenblutrot bis lila reicht die Farbpalette der Neubauten.
Ich wohne im Haus mit der Nummer 66. Maklerpoeten haben es „Ocean’s End“ getauft. Die Firma Plus Bau war so freundlich, der Redaktion hier ein komplett eingerichtetes Musterapartment eine Woche lang zu überlassen. Von außen wirkt das Gebäude wie ein wild verdrehter Zauberwürfel: Fenster, Wände und Balkone lassen sich nicht ohne weiteres den Wohnflächen zuordnen. Nicht nur deshalb gilt es als das gewagteste Bauprojekt des ersten Abschnitts: Die verschachtelten Loftwohnungen mit sechs Meter hoher Frontverglasung, frei stehender Küchenzeile und Design-Badezimmer verlangen nach Mietern mit einem Selbstdarstellungstrieb, der allerdings als unhanseatisch gilt.
Wohnen wie im Prospekt
Eingerichtet ist die Musterwohnung mit Prospektmöbeln der Firma Rolf Benz. Eine orangefarbene Ledercouchgarnitur, weiß-blaue Atmo-Leuchten, braun bezogene Freischwinger und ein Holz-Chrom-Esstisch vom Ausmaß zweier Tischtennisplatten, dazu ein paar abstrakte Malarbeiten und Bambusspiralen verströmen jenen unpersönlichen Chic, den unterkühlte Maklerinnen bei ihren Führungen durchs Haus offenbar für anziehend halten – der meine Seele aber leider überhaupt nicht zum Wohnen einlädt.
Meine Nachbarn, die zwischen 963 und 2512 Euro Kaltmiete für ihre 70 bis 150 Quadratmeter großen Lofts zahlen, nutzen sie anscheinend nur als Schlafkojen. Frustriert klingle ich mich mehrmals täglich durchs Haus, um zu erfahren, wie es sich lebt als Neubürger eines Stadtteils im Werden – vergebens. Nur einmal dringt laute Rockmusik durch eine Tür, und es öffnet ein salopper 50-Jähriger, dem das Hemd aus der Hose lappt und der mich mit dem Hinweis abwimmelt, er habe keine Zeit, weil er am nächsten Tag nach Korsika fliege. Im Aufzug begegne ich später einem verschreckten Mann, auf dessen T-Shirt „Mensch“ steht und der sich aus Höflichkeit mit mir verabredet, dann aber kurz vor unserem Treffen absagt.
Der Charme der Speicherstadt
Diese Form des verwaisten Reichtums scheint alle Vorurteile zu bestätigen, die seit 1997, als der damalige Bürgermeister Henning Voscherau die Hafencity ankündigte, gegen das Projekt vorgebracht wurden: Nämlich, dass hier ein gelackter Stadtteil für neureiche Singles entstehe, die das Quartier nur dadurch beleben, dass sie spätabends mit ihren Cabrios in die Tiefgarage fahren. Ein nächtlicher Abstecher zu den Stellplätzen – Kaufpreis 20 000 Euro – bestätigt das Klischee: Hier stehen tatsächlich all die teuren Karossen herum, die Anlass zum Sozialneid stiften.
Der Charme der Speicherstadt
Nur vereinzelt sind Passanten auf den zugigen Straßen unterwegs. Ihre Absicht kann man leicht nach der Schrittgeschwindigkeit unterscheiden: hektisch eilend die Angestellten, fußmüde die Baustellentouristen; und die Bauarbeiter treten für beide aus Prinzip nicht zur Seite. Gewiss wäre die Atmosphäre im ersten Bauabschnitt der Hafencity noch exzentrischer, gäbe es auf der anderen Straßenseite nicht die Speicherstadt mit ihrer Aura von Ewigkeit und in sich ruhender Kraft. Das ab 1885 erbaute Ensemble verlor zwar mit dem Aufkommen des Containerhandels seine ursprüngliche Funktion, und hafenfremde Betriebe zogen in die Böden ein. Aber lebendig ist es geblieben. Wo früher Kaffee und Gewürze gelagert wurden, sitzen heute junge Kreative in offenen Verladetüren und arbeiten, die Laptops auf den Knien, im Sonnenschein.
250 Firmen haben mittlerweile den Charme der Speicher entdeckt, und während der Bürozeiten vertreiben deren Mitarbeiter die Einsamkeit. Touristische Massenziele wie das „Hamburg Dungeon“, eine Gruselshow zur Hamburger Geschichte, und das „Miniatur Wunderland“, die größte Modelleisenbahn der Welt, ziehen weitere Besucher an. Der erste neu gestaltete Platz der Hafencity hingegen, die Magellan-Terrassen, ist noch meist verwaist. Nur Skateboardfahrer und Fotografen treiben sich regelmäßig dort herum: Erstere ruinieren den hellen Stein mit Schleifspuren, Letztere nutzen den leeren Platz für Foto-Shootings.
Noch fehlen Geschäfte
Mein Vorhaben, eine Woche lang im neuen Quartier zu leben, ohne es zu verlassen, erweist sich als unmöglich. Ich bin einfach zu früh. Noch gibt es weder einen Bäcker noch ein Lebensmittelgeschäft, weder Ärzte noch Geldautomaten. Erst vorsichtig etablieren sich in den Fugen zwischen Alt und Neu versprengte gastronomische Angebote. In einem ehemaligen Zollhäuschen hat sich ein pakistanischer Mini-Imbiss eingenistet, bei dem vom Sandwich bis zur Cola alles 1,50 Euro kostet. In einem anderen Grenzhäuschen residiert ein Suppenladen.
Bei Sturmflut wäre hier landunter
Ein wagemutiger Wirt hat das architektonische Kleinod einer leer stehenden Toilettenanlage in ein „Fleetschlösschen“ umgewandelt. Eigentlich ist diese Mini-Immobilie gar nicht zu nutzen, da sie an der tiefsten Stelle der Speicherstadt liegt. Das bedeutet: Nach jeder Sturmflut muss die Toilettenburg komplett renoviert werden. Aber Christian Oehler, der Wirt, hat seinen Spaß an der Reparatur von Naturschäden. „Man muss in Bewegung bleiben“, erklärt er gut gelaunt.
Bei Sturmflut wäre hier landunter
Das gesamte Planungsgebiet der Hafencity liegt im Überflutungsgebiet der Elbe. Damit voll gelaufene Tiefgaragen und davongespülte Rezeptionistinnen nicht das Projekt gefährden, müssen alle Straßen und Hauseingänge auf 7,50 Meter über Normal Null gelegt werden. So durchzieht bereits jetzt ein Netz aufgeschütteter Deichstraßen die noch leeren Sandlandschaften, die nach dem Abräumen alter Lagerhallen für den Hochbau präpariert werden. Immerhin: In dieser scheinbaren Ödnis entwickelt sich so etwas wie ein geheimes Leben der Hafencity.
Abends, wenn ich beim Spazierengehen von den erhöhten Straßen einen herrlichen Blick über die Elbe und die taghell erleuchteten Verlade- und Industrieanlagen am anderen Ufer genieße, treffe ich Hafencity-Aktivisten: Hobbyarchäologen buddeln nach dem Bauschutt des alten Hamburgs, der nach dem Großen Brand von 1842 zum Teil hier deponiert wurde. Daneben angeln gemütvolle Herrn auf Klappstühlen Aale, Brassen und Barsche aus den Hafenbecken. Familien in Wohnmobilen packen mit Blick auf die architektonische Flamingoparade am gegenüberliegenden Kai ihre Grills aus, junge Deutsch-Türken heizen mit Quads, knatternden, vierrädrigen Motorrädern, die aufgeschütteten Baugründe rauf und runter.
Die Planer haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt
Bis 2009 soll hier, am Dalmannkai, der nächste Abschnitt der Hafencity entstehen. Die über 30 neuen Gebäude, die auf der Landzunge errichtet werden, besitzen ein sehr viel größeres Gewicht für das Gelingen des Gesamtprojektes als die bisherigen Bauten. Denn mit ihnen entsteht erstmals ein in sich geschlossenes Viertel, das zeigen kann, ob eine Stadt vom Reißbrett funktioniert. Um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, als große Quartiere nur für Büros (City Nord) oder nur zum Wohnen (Mümmelmannsberg) errichtet wurden, sollen die Lebensbereiche am Dalmannkai wieder vermischt werden. Seniorengerechte Wohnungen werden sich an Bürotürme anschließen, Wohnhäuser neben Cafés liegen. Damit sich keine sozialen Gettos bilden, sollen die Wohnangebote außerdem preislich gestaffelt werden. Von schlichten Mietwohnungen bis zum Designloft von Philippe Starck reicht die Auswahl.
Ein Wagnis
Unterstrichen wird diese Vielfalt durch eine große Palette unterschiedlicher Entwürfe, die sich in Wettbewerben durchgesetzt haben. Junge Hamburger Architekten konnten ebenso ihre Vorstellungen von einem modernen Wohnhochhaus entwickeln wie arrivierte Kollegen. In der Computeranimation wird der Dalmannkai an seiner Spitze von der spektakulären neuen Elbphilharmonie der Schweizer Stararchitekten Herzog & de Meuron gekrönt, einem gläsernen Wellenberg, der ab 2009 auf dem alten Kaispeicher A thronen soll. Weitere Stars des internationalen Architekten-Jet-Sets sollen Hamburgs Anspruch untermauern, wieder Weltstadt zu sein: Richard Meier baut ein Amerika-Zentrum in seiner klaren, weißen Handschrift; Rem Koolhaas setzt in spielerischer Manier zwei durchlöcherte Riesenbadewannen für ein Kreuzfahrtterminal und ein Wissenschafts- Museum ans Hafenbecken.
Ein Wagnis
Chefplaner Jürgen Bruns-Berentelg, der mit lustigem Blick komplizierten Stadtplanerjargon spricht, weiß, dass die Hafencity ein Wagnis ist. Zwar gibt es weltweit viele Vorläufer bei der Wiederbelebung verlassener Hafenanlagen. Aber wenige waren erfolgreich. In Londons Canary Wharf wurde ein Hochhausviertel errichtet, das keinerlei Bezug zu seiner Umgebung hat und seinen Betreibern milliardenschwere Verluste beschert. In Amsterdam schufen die Stadtplaner hinter bunten Fassaden eine soziale Monokultur ärmerer Mieter, was zu den typischen Problemen urbaner Gettos führte.
Deswegen setzt Bruns-Berentelg vehement auf ein Konzept der Vielfalt und der Nutzungsmischung: Bereits im Masterplan, im Jahr 2000 aufgestellt, legten die Stadtväter fest, dass sich die Lebensbereiche Arbeiten, Wohnen und Freizeit vernetzen sollen. Da das ganze Areal der Stadt gehört, lässt sich die Vergabe der Grundstücke an klare Vorgaben knüpfen: Den Zuschlag erhält nicht der Investor mit dem höchsten Gebot, sondern derjenige mit dem besten Konzept. Ökologische und ästhetische Ansprüche an die Neubauten spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Kostenvorstellungen des Bauherrn.
Besonders erwünscht: Kinder
Weil viele unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Aspekte in diesem Prozess ineinander greifen, werden nicht alle Ansprüche am Ende verwirklicht sein. Aber diese Gefahr schätzt Bruns-Berentelg viel geringer ein als vorauseilenden Kleinmut. Provokant beschreibt er die Verantwortung seiner Behörde so: „Gehen 20 Prozent der Projekte schief und müssen in 20 Jahren abgerissen werden, dann ist das immer noch besser, als wenn wir nur Mittelmaß produzieren.“
Eine Bewohnergruppe ist besonders willkommen in der Hafencity: Es sind die Kinder. Der CDU-geführte Senat hat seine Politik unter die Maxime „Wachsende Stadt“ gestellt. Also muss er familienfreundliche Bedingungen schaffen – auch im Vorzeige-Projekt Hafencity. In der nächsten Bauphase wird darum eine Grundschule gebaut, am Dalmannkai sollen begrünte Innenhöfe als Spielraum entstehen. Was wichtig ist, denn bislang gilt die Hafencity als kinderfreie Zone.
Leben vor der Stadt - in der Stadt
Umso größer ist meine Überraschung, als ich schließlich doch noch von Nachbarn eingeladen werde und eine kunterbunte Patchwork-Familie antreffe. Ein Golden Retriever begrüßt mich am Lift, Hausherr Florian Wolf lotst mich durch die gemütliche Enge einer voll gestellten Wohnung zur Couch. Mit Antiquitäten, Vitrinen, goldenen Spiegeln und Topfpflanzen hat die Familie das kühle Loft in eine warme Stube verwandelt, die gut zur Herzlichkeit ihrer Bewohner passt.
„Man lebt wie vor der Stadt, nur in der Stadt“
Wolf ist ein Unternehmensberater für Biotechnik, der seine Eigentumswohnung im edlen Hamburger Altbauviertel Eppendorf für das neue Domizil verkauft hat. Seine quirlige, rothaarige Lebenspartnerin stammt aus Hamburgs Apfelanbaugebiet Vierlanden. Als die Wolfs einzogen, mussten sie Zusatzverträge unterschreiben, in denen sie versicherten, Hafen- und Baulärm zu akzeptieren. Und zu akzeptieren haben die Wolfs auch, dass ihre 13- jährige Tochter ins ferne Eppendorf aufs Gymnasium geht und keine Spielkameraden in der Umgebung hat. Jeder Einkauf gleicht einer Expedition mit schwerem Gepäck zurück aus der benachbarten Innenstadt. „Man lebt wie vor der Stadt, nur in der Stadt“, sagt Florian Wolf.
Trotzdem sind alle drei froh über die sonnendurchflutete Wohnung mit Blick über den Hafen und, als Bootsnarren, über die Nähe zum Wasser. Zurück in meinem Interimsdomizil, fühle ich mich nach dem Besuch wie eine Grabbeigabe. Ab 20 Uhr, wenn sich die letzten müden Angestellten durch magnetkartengesicherte Glastüren ihrer Banken und Reedereien schieben, in deren Foyers Flatscreen-Monitore Meeresmotive pixeln, ist es in der Hafencity so einsam wie in Rimini nach der Saison. Die Straßen ausgestorben, das eigene Haus totenstill, und das Interieur widersetzt sich hartnäckig dem Wunsch nach Gemütlichkeit.
Kribbelndes Gefühl der Faszination
Die einsame Angestellte, die im Bürohaus nebenan bis zwei Uhr nachts noch am Computer sitzt, fixiere ich mit platonischer Fernromantik. Aber meine täglichen Wanderungen durch das riesige Areal und die vielen Gespräche mit Angestellten, Fotografen und Zaungästen der Queen-Mary-Abfahrt geben mir doch ein kribbelndes Gefühl von der Faszination, die mittlerweile von der Hafencity ausgeht. Überall ist eine gesunde Mischung aus Neugier und Skepsis zu spüren – nur die Teppichhändler in der Speicherstadt bangen um ihre billigen Mieten.
Hat die Hafencity das Zeug dazu, ein Ort mit Seele zu werden? Wo außer Harley-Days, Elbebadetagen und Rock-Festivals auch mal so etwas Normales wie ein Nachbarschaftsfest stattfinden wird? Zehn bis 20 Jahre wird es dauern, bis die Patina des Alltags die große Stadtentwicklungsshow in etwas Natürliches verändert haben wird. So lange muss man der Hafencity Zeit geben. Die Absicht der Planer, diese Normalität einmal zu erreichen, stimmt aber schon heute hoffnungsvoll. Vorfreude ist also erlaubt.