"Der Winter im Himalaya ist ein anderes Kaliber", sagt Claude Balsiger und gräbt sich tiefer in seinen Schlafsack. Den Sommer im höchsten Gebirge der Welt kennt der Schweizer Bike-Abenteurer. Jedes Jahr verbringt er dort einen bis mehrere Monate. Einmal pedalte er bis auf 6175 Meter über Meer – Weltrekord. Aber eben, alles im Sommer.
Jetzt stöhnt er vor Kälte. Minus 20 Grad sind es über Nacht. Am Morgen steigt er auf sein Bike und fährt los. Sein Weg ist der gefrorene Fluss Zanskar. Begleitet wird er vom einheimischen Guide Tundup, Trägern, einem Koch und seinen Landsleuten Thomas Wäspe, Bergführer in Ausbildung und dem Fotografen Martin Bissig. Tundup prüft jeweils mit dem Holzstock das Eis und gibt Claude das Ok. Oft ist das Eis über einen Meter dick, manchmal aber auch nur ein paar Zentimeter. Es kommt vor, dass das Wasser durchbricht und über die Eisfläche fliesst.
Die Euphorie kommt jeweils mit den ersten Sonnenstrahlen, die in das enge Tal dringen. Claude schwärmt: "Das ist die grossartigste Bike-Tour meines Lebens." Nach fünf Tagen sind er und seine Begleiter im Städtchen Padum. Der Regierungschef des Subdistrikts Zanskar lässt ihm ein Dokument ausstellen, das ihn als ersten Radfahrer ausweist, der den Zanskar bezwungen hat. Doch die Schwierigkeiten sollen damit erst beginnen.
Den gleichen Weg wieder zurück, das interessiert Claude nicht. Er und Thomas wollen den Himalaya auf Ski überschreiten und in die nordindische Stadt Manali abfahren. Zehn Tage lang wandern sie weiter in Richtung Hauptkamm, übernachten in Klöstern, bei Verwandten von Tundup und schliesslich in dessen Zuhause. Thomas kämpft mit Magenproblemen, muss immer wieder Ruhetage einlegen und verliert Kilo um Kilo. Trotzdem machen sich Claude und er auf Richtung Shingo-La, den mit 5100 Metern höchsten Punkt ihrer Himalaya-Überquerung.
Folgenschwere Entscheidung
Die Temperaturen steigen und mit ihnen die Häufigkeit von Lawinen. Die steilen Hänge des Shingo-La wollen Claude und Thomas deshalb in der Nacht queren. Am Tag ist ihnen die Sache zu gefährlich. Doch sie geraten in einen Schneesturm, schlagen auf einem Grat ihr Zelt auf. Dort warten sie auf eine Wetterbesserung, die nicht kommt. "Das ist der Punkt, an dem die einen umkehren und die anderen sterben" sagt Claude zu seinem Begleiter. 400 Höhenmeter unter dem Pass und vier Tagesetappen von ihrem Ziel entfernt kehren sie um.
Der Weg zurück ist ein Wettlauf gegen die Zeit: der Zanskar ist in voller Schmelze. Ist er nicht mehr begehbar, sind Claude und Thomas gefangen im Tal – für einen bis zwei Monate, bis auch der Schnee geschmolzen ist. Zwölf Stunden und mehr marschieren sie Tag für Tag durch Schnee und Wasser. Tundup begleitet sie bis in die Mitte des Zanskar und übergibt sie an Guides, die von der anderen Seite her kommen. Er muss umdrehen, sonst schafft er es nicht mehr zurück zu seiner Familie.
Vier Wochen nach dem ersten Kontakt mit dem Eis, sind Claude und Thomas an der Stelle, an der alles begann. "So war das nicht geplant", resümiert Claude, "und so kurz vor dem Ziel umzukehren tat weh. Trotzdem war die Expedition ein unglaubliches Erlebnis und ein Höhepunkt meines Lebens." Der Winter hat es dem Schweizer angetan. Er träumt bereits von neuen Himalaya- Abenteuern in der kalten Jahreszeit.