Müssen Riesen sich eigentlich nicht an Verbote halten? Sie knarren und ächzen, sie rauschen und quietschen, sie knacken und ploppen. Das dumpfe Plopp-Geräusch kommt von den Kiefernzapfen, die aus 30 Meter Höhe auf den weichen Waldboden fallen. Es riecht nach Harz und würzigem Moos. "È vietato fare schiamazzi" steht auf dem Schild am Beginn des Wanderpfades in den Wald der Riesen - Ruhestörung verboten. Schiamazzi? Papperlapappi. Über solche spießigen Anordnungen sind Giganten erhaben.
Es handelt sich um natürliche Autoritäten von herausragendem Format: 56 Schwarzkiefern - Pino laricio -, deren Dimensionen an amerikanische Mammutbäume erinnern. Die Bäume sind rund 400 Jahre alt und über 40 Meter hoch, die Stämme haben einen Umfang von zwei bis drei Metern. Die "Giganti della Sila" ragen im Zentrum des Nationalparks Sila in den Himmel, der sich über 737 Quadratkilometer im kalabrischen Bergland an der Sohle des italienischen Stiefels erstreckt.
Wer durch diesen märchenhaften Riesenwald spaziert, verliert bald das Gefühl dafür, dass er sich ganz im Süden Europas befindet. Es ist kühl und schattig, nur wenige Sonnenstrahlen schaffen es bis zum Boden. Oben in der Krone eines Riesen sitzt ein Buntspecht und verstößt mit seinem emsigen Tock-tock-tock eindeutig gegen die Parkregeln.
Tannen und Kiefern, Bergseen und Wiesen, Pilze und Spechte, und dies alles nur wenige Kilometer von den weißen Stränden und türkisfarbenen Buchten Kalabriens entfernt: Die Sila ist ein geografisches Paradoxon - ein kleines Gebirge, das durch die Launen der Natur ins Mittelmeer gepflanzt wurde. Auf einer Wanderung zu den Kiefern-Giganten am Ufer des Lago Cecita hat man das Gefühl, im Bayerischen Wald zu sein, im Schwarzwald oder in Kanada.
Im Winter schneit es hier viel, in manchen Jahren bis zu drei Meter. Bei Camigliatello Silano gibt es Sessellifte und Skipisten, man kann Langlaufen und Schneeschuhgehen. Obwohl die Sila südlicher liegt als Istanbul und Madrid, herrscht ein feucht-kühles alpines Klima. An den Gebirgszügen der Sila Grande, Sila Greca und Sila Piccola mit ihren knapp 2000 Meter hohen Gipfeln regnen alle Wolken ab, die der Wind über das Meer hierher treibt.
Nebel steigt vom Waldboden auf, die Atmosphäre erinnert an die "Herr der Ringe"-Filme. Hat es da im Unterholz nicht gerade verdächtig geknackst? Es wäre nicht verwunderlich, wenn plötzlich die sieben Zwerge, das letzte Einhorn oder ein italienischer Verwandter von Räuber Hotzenplotz, Brigante Pennastorta, auf den Weg springen würden. Es ist aber bloß Eduardo Santoro, der zwar auch einen schwarzen Vollbart trägt, aber bestimmt nichts Böses im Schilde führt.
Der Nationalpark-Guide begleitet uns auf der Wanderung durch den Wald, und wann immer er etwas Besonderes sieht, einen schönen Steinpilz oder einen verwitterten Tierknochen zum Beispiel, verschwindet er ins Gebüsch. Diesmal hat er nichts gefunden, aber beim Weitergehen erzählt er, dass er neulich einen Ziegenschädel entdeckt habe mit Spuren von Wolfszähnen daran. Wölfe?
Aus GEO Special "Italien - der Süden"
Der Text ist ein Auszug aus unserer Reportage "Im Märchenwald". Lesen Sie den ganzen Artikel im aktuellen GEO Special Magazin.
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