Der Herbst ist für den Igel eine Zeit, in der es vor allem um eines geht: fressen. Und zwar so viel, dass sich eine ausreichende Speckschicht bildet. Denn vor dem Stacheltier liegt ein halbes Jahr Auszeit. Winterschlaf. Das heißt: Eine geeignete Ruhestelle finden – etwa einen Haufen Totholz. Dann den Stoffwechsel runterfahren, das Herz nur noch ein bis zwei Mal pro Minute schlagen lassen, die Atmung verlangsamen, die Körpertemperatur runterschrauben, von 36 auf fünf Grad Celsius. Und von den angefutterten Reserven leben.
Erst im April oder Anfang Mai erwacht der Langschläfer. Gut, dass er im Nacken noch ausreichend "braunes Fett" gespeichert hat. Das verbrennt besonders schnell und heizt den kleinen Körper auf wie einen Ofen. Dann beginnt die aktive Zeit des Stachelträgers. Ein halbes Jahr Dauer-Schnarchnase – ein halbes Jahr nachtaktiver Rumtreiber: Typisch Igel! Sein Leben steckt voller Widersprüche und Missverständnisse.
Gehör hilft bei der Nahrungssuche
Nüchtern betrachtet ist Erinaceus europaeus ein einzelgängerisches, verflohtes Wildtier, das die Welt mit seinen Stacheln auf Abstand halten will. Doch kommt diese Botschaft beim Menschen an? Von wegen! Mit Knopfaugen, seinem plumpen Körper und dem Schnäuzchen gilt er als niedlicher Sympathieträger. In Kinderbüchern wird er sogar oft mit einem roten Apfel auf dem Rücken gezeichnet. Ein weiteres Missverständnis – denn der Igel ist Fleischfresser. Er sucht Laufkäfer, Regenwürmer und Schmetterlingsraupen, fängt Nacktschnecken und frisst Eier und Küken von bodenbrütenden Vögeln. Selbst Aas verschmäht er nicht.
Sein hervorragendes Gehör hilft dem Igel bei der Nahrungssuche, ebenso wie seine empfindsame Nase. Gerüche nimmt er durch schnelles Ein- und Ausatmen wahr – und schnauft dabei mitunter so geräuschvoll, dass Menschen ihn eher hören als sehen. Zusätzlich verfügt der Igel noch über ein weiteres Sinnesorgan, ein "Geheimlabor" im hinteren Gaumenbereich. Stößt er auf etwas Unbekanntes, das stark riecht, dann zerkaut er es, bis schaumiger Speichel entsteht. Den schiebt er mit der Zunge in das sogenannte Jacobson-Organ, mit dem er Gerüche sozusagen schmecken kann. Nach der Prüfung spuckt der Igel den Schaum unter großen Verrenkungen auf seinen Rücken. Weshalb er das tut, ist unklar. In jedem Fall erschreckt er damit häufig Menschen: Die fürchten fälschlicherweise, das Tier leide an Tollwut.
Igel zählen zu den ältesten Säugetieren der Welt. Schon vor 60 Millionen Jahren lebten ihre Vorfahren. Heute gibt es in Europa, Asien und Afrika 16 verschiedene Arten von Stacheligeln. In manchen Gebieten Ostdeutschlands kann man den Nördlichen Weißbrustigel entdecken. Doch fast immer sind es Braunbrustigel, die bei uns geräuschvoll durchs Unterholz rascheln. Sie sind bis zu 28 Zentimeter lang und können im Herbst bis zu 1200 Gramm wiegen. Während des Winterschlafs verlieren sie rund ein Drittel ihres Gewichts.
Kein Wunder, dass im Frühjahr ihr Stachelkleid schlackert! Bei erwachsenen Tieren ist es mit bis zu 8000 spitzen Stacheln bestückt. Eigentlich handelt es sich um verhornte Haare, die zwei bis drei Zentimeter lang und innen hohl sind. Alle eineinhalb Jahre fällt ein Stachel aus und muss wieder nachwachsen. Durch ein Zusammenspiel verschiedener Muskeln kann der Igel seine Stacheln bei Gefahr aufstellen – und sich binnen drei Sekunden zu einer kompakten Kugel zusammenrollen. Seine Haut liegt am Rücken nur lose an und ist so groß, dass der Igel sie wie einen Mantel über seine verletzliche Unterseite ziehen kann.
Die Pikskugel ist unangreifbar. Beinahe zumindest: Uhus können mit ihren langen Krallen den Stachelpanzer durchstechen. Und Dachsen gelingt es, ihre Schnauze in die weiche Lücke auf der Bauchseite des Igels zu stecken.
Stacheliger Sex sorgt für Polizeieinsätze
Die größten Gefahren jedoch gehen nicht von Igel-Feinden aus, sondern vom Menschen: Der lässt nachts Mähroboter über Rasen brummen, streut Schneckenkorn und Rattengift und räumt seine Gärten und Parks so rigoros auf, dass Unterschlupfmöglichkeiten fehlen. Vor allem aber rast er im Auto durch die Nacht. Laut einer groben Schätzung sterben rund 500.000 Igel jährlich auf Deutschlands Straßen. Da nützen alle Stacheln nichts.
Die meisten Verkehrsopfer sind Igelmännchen. Zwischen Mai und Juli legen die Einzelgänger nämlich beträchtliche Strecken zurück, bis sie ein Weibchen finden. Das wehrt sich zunächst fauchend gegen den ungebetenen Kavalier. Doch der lässt sich nicht beirren. Stunden-, ja tagelang umkreist er seine Angebetete im sogenannten Igelkarussell.
Und schließlich paaren sich die Tiere. Nicht Bauch an Bauch, wie Aristoteles vermutet hatte. Stattdessen legt das Weibchen seine Stacheln an, drückt sich auf den Boden, und das Männchen besteigt es von hinten. Jeden Sommer kommt es zu Polizeieinsätzen, weil Igelpärchen während Balz und Liebesspiel so geräuschvoll schnaufen, keckern und knurren – und Anwohner einen Tunichtgut im Gebüsch befürchten. Ein weiteres Missverständnis.
Rund 35 Tage später kommen zwei bis elf Igeljunge zur Welt: taub, blind und leichter als ein Squashball. Damit sie die Mutter während der Geburt nicht verletzen, sind ihre Stacheln von einer dünnen, feuchten Haut verdeckt. Sobald diese trocknet, werden etwa hundert weiße, weiche Erstlingsstacheln sichtbar. Die Igelmutter säugt ihre Jungen. Kurioserweise besitzen nicht nur die Weibchen, sondern auch die Männchen zehn Zitzen. Im Alter von etwa sechs Wochen sind die Igeljungen selbstständig – und müssen sich Fett anfuttern, so schnell es geht.
Denn immer mehr Blätter segeln zu Boden, es wird merklich kühler, die Insekten verschwinden. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten suchen Igel im Herbst oft auch tagsüber nach Futter. Das provoziert das nächste Missverständnis, denn es ruft gutmeinende Igelretter: Häufig verfrachten sie auch propere, gesunde Tiere in Pappkartons und tragen sie aus ihrem Revier. Natürlich gibt es Igel, die Hilfe brauchen – wenn sie etwa krank oder verletzt sind oder wenn Junge im Spätherbst noch weniger als 400 bis 500 Gramm wiegen. Doch die allermeisten Igel brauchen einfach Ruhe und einen gemütlichen Laubhaufen. Schließlich müssen sich die Nachtschwärmer wieder in Dauer-Schnarchnasen verwandeln, wenn sie das nächste Frühjahr noch erleben wollen.