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Metamorphose Die wundersame Verwandlung der Schmetterlinge

Puppen dreier Schmetterlinge
Bildschön und vielgestalt: Die Puppen der Schmetterlinge Catonephele numilia, Idea leuconoe (Weiße Baumnymphe) und Parides montezuma
© Levon Biss
Die Puppen von Schmetterlingen gleichen wunderschönen, reglosen Skulpturen, wie die Bilder des Fotografen Levon Biss zeigen. In ihrem Innern aber vollzieht sich ein riskanter Akt der Zersetzung und Neugestaltung. Die Formwandlung scheint einem Ziel zu dienen: dem schnellstmöglichen Wachstum der Raupen

Der Kinderbuchautor Eric Carle ging über das Wunder der Metamorphose salopp hinweg. Nachdem sich seine kleine Raupe Nimmersatt durch ein reichhaltiges Büfett gefressen hatte, baute sie sich "ein enges Haus, das man Kokon nennt, und blieb darin mehr als zwei Wochen lang. Dann knabberte sie sich ein Loch in den Kokon, zwängte sich nach draußen und … war ein wunderschöner Schmetterling!"

Was Carle verschweigt: Der finale Verdauungsakt jeder gefräßigen Raupe gilt nicht dem grünen Blatt, das sie vor ihrer Verpuppung verspeist hat. Er gilt ihrem eigenen Körper.

Strenggenommen spinnen jene bunten Schmetterlinge, die hauptsächlich des Tags umherflattern, ohnehin keinen Kokon, sondern sprengen ihre letzte Raupenhaut. Darunter entsteht die schützende Außenhülle der Puppe, auch Chrysalis genannt. Kaum ist sie ausgehärtet, beginnt im Innern der Umbau.

Angetrieben von einem Zusammenspiel zweier chemischer Signalgeber, Ecdyson und Juvenilhormon, zerfließt ein Teil der Zellen zu einem nahrhaften Brei. Das Atmungssystem, der Verdauungstrakt und das Nervengeflecht strukturieren sich um. Aus kleinen Zellsäckchen, den Imaginalscheiben, erwachsen neue Körperteile: Flügel, Beine, Antennen, Facettenaugen, Geschlechtsorgane. Die Überreste von abgestorbenen Zellen dienen als Treibstoff für die Ausdifferenzierung neuer Strukturen. Der Schmetterling, der nach der letzten Häutung zum Vorschein kommt, hat mit der Raupe nicht die geringste Ähnlichkeit.

Diese Verwandlung fasziniert Menschen seit Jahrtausenden. Aristoteles zum Beispiel glaubte, Raupen schlüpften aus unbefruchteten Eiern. Ohne männlichen Samen fehle ihnen das formgebende Element, das "Pneuma". Die Verpuppung, so postulierte er, sei eine Art Rückkehr ins Ei, in welchem die unvollendeten Lebewesen zu ihrer endgültigen, perfekten Form heranreiften. Zwar war Aristoteles bekannt, dass Schmetterlinge und andere formwandelnde Insekten sich sehr wohl paaren. Er tat es jedoch als Scheinhandlung ab: Es werde, so behauptete er, bei diesen Vereinigungen kein Samen übertragen.  

Viele Tiere verwandeln sich auf dem Weg zur Geschlechtsreife - doch wenige so radikal

Im Christentum war die Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling Sinnbild für den Tod und die Wiederauferstehung Jesu, aber auch für die Verwandlung des Menschen durch Gott: vom Sünder zum Erlösten. Die unappetitlichen Details des biologischen Prozesses flossen in diese Allegorie nicht ein.

Die Radikalität dieses Verfalls ist in der Natur einzigartig. Viele Tiere verwandeln sich auf dem Weg zur Geschlechtsreife graduell. Sie werden von der Kaulquappe zum Frosch, von der Larve zur Muschel, von der Nymphe zum Grashüpfer. Ihnen wachsen Beine, Lungen, Schalen, Flügel. Schritt für Schritt nähern sie sich ihrer endgültigen Form.

Doch vor rund 400 Millionen Jahren, lange bevor Schmetterlinge durch die Lüfte taumelten, traten die ersten Insekten auf den Plan, die ihren Körper auf dem Weg zur Geschlechtsreife radikal umbauten. Forschende bezeichnen diese Gruppe der Insekten als holometabol. Sie entwickelten sich aus hemimetabolen Insekten, deren Larven dem erwachsenen Tier mit jeder Häutung ähnlicher werden. Libellen, Schaben und Grashüpfer folgen diesem sanften Entwicklungspfad.

Übersichtstafel verschiedener Schmetterlinge
Farbenfrohe Schönheiten schlüpfen aus den Puppen in der Bildergalerie. Von oben links nach unten rechts: Doleschallia Bisaltide (engl: Autumn Leaf), Siproeta stelens (Malachitfalter), Myscelia cyaniris (Fleck-Schillerfalter), Mechanitis polymnia (engl.: Orange-spottet Tiger Clearwing), Colobura dirce (engl.: Zebra Mosaic), Caligo telamonius ssp. (Bananenfalter), Hamadryas amphinome (Blauer Mosaikfalter)
© Shutterstock; Alamy Stock Photo (o.l.); Dorling Kindersley (m.r.)

Doch mehr als vier Fünftel aller heutigen Insektenarten sind holometabol. Der Akt der Auflösung und Neuorganisation ist für sie riskant. Die meisten Schmetterlingspuppen können nicht vom Fleck. Vögel, Nager und andere Fressfeinde brauchen sie bloß aufzuklauben.

Wehrlos sind die Puppen deshalb nicht. Die Bilder zeigen, mit welch fantastischen Tricks sie Räuber in die Irre führen. Manche tarnen sich als Blätter, Stöckchen oder Vogelschiss. Andere verwirren Angreifer mit metallischem Glanz, verschmelzen farblich mit dem Hintergrund, rüsten sich mit Stacheln oder mit Chemikalien. Einige Arten von Schmetterlingen rekrutieren Ameisen als Wachtrupp: Puppen des Kreuzenzian-Ameisenbläulings machen die Arbeiterinnen gefügig, indem sie die Geräusche der Königin nachahmen.

Auch Parasiten gilt es zu entgehen. Die Puppen-Erzwespe etwa legt ihre Eier in frische, noch weiche Puppen des Großen Kohlweißlings. Das Innere der Chrysalis dient der Wespenbrut nach dem Schlüpfen als Heim und Nahrung. Selbst von den eigenen Einzellern droht einer Schmetterlingspuppe Gefahr: Erneuert sich während der Metamorphose der Darm, können sich potenziell gefährliche Bakterien aus dem Verdauungstrakt im Organismus ausbreiten.

Die Metamorphose ist riskant. Wieso hat sie sich durchgesetzt?

Die Metamorphose ist also ein kostspieliges und gefährliches Unterfangen. Es droht, in der spröden Sprache der Evolutionsbiologie, "ein vollständiger Verlust der Fitness durch frühzeitigen Tod." Warum hat sie sich trotzdem durchgesetzt? Dieser Frage geht Jens Rolff nach, Professor für Evolutionsbiologie an der Freien Universität Berlin. Zwei Hypothesen gebe es, sagt er.

Eine lautet: Weil sich Larven und erwachsene Tiere unterschiedlich ernähren – die Schmetterlingsraupe etwa von Blättern, der Schmetterling von Nektar –, benötigen sie zur Unterstützung der Verdauung verschiedene Bakteriengemeinschaften. Die Erneuerung des Darms hilft bei dieser grundlegenden Umgestaltung. Rolffs Team konnte nachweisen, dass sich das Mikrobiom während des Puppenstadiums stärker verändert, als das bei bloßen Häutungen der Fall ist.

Dennoch: Den wahren Vorteil der Metamorphose vermutet Rolff in der Trennung von Wachstum und körperlicher Ausgestaltung. Tiere, die beides zeitgleich vorantreiben, müssen einen Kompromiss finden. "Differenzierung kostet Energie, die damit nicht zum Wachsen zur Verfügung steht. Außerdem ist Gewebe, das zu schnell wächst, häufig weniger leistungsfähig."

Übersichtstafel verschiedener Schmetterlinge
Noch mehr verwandelte Flattermänner (von links oben): Eueides isabella (engl.: Isabella's Longwing), Parthenos sylvia (Blauer Segler), Tithorea harmonia (engl.: Harmonia Tigerwing), Catonephele numilia (engl.: Grecian Shoemaker), Idea Leuconoe (Weiße Baumnymphe), Parides montezuma (engl.: Montezuma's Cattleheart), Heliconius hecale (engl.: Tiger Longwing)
© Shutterstock

Doch die Raupe muss keine Zellen opfern, um Form und Funktion ihrer Organe zu perfektionieren. "Im Grunde ist sie ein großer Sack Gewebe", sagt Rolff. "Sie frisst, frisst, frisst und wächst, wächst, wächst." Erst wenn sie schwer genug ist, kann sie sich verpuppen. Die in ihrem Körper gespeicherte Energie nährt jene Zellen, die nun das ausgewachsene Insekt bilden.

Doch wozu die Eile? Womöglich, um Nahrungsressourcen optimal zu nutzen, die nur für kurze Zeit verfügbar sind, sagt Rolff. Oder um der Konkurrenz voraus zu sein. Denn an einem kahl gefressenen Strauch ist nichts mehr zu holen, und die nächste Futterpflanze ist für die Raupe unter Umständen unerreichbar. Die Daten des Berliner Evolutionsbiologen belegen: Im Schnitt wachsen holometabole Insekten tatsächlich schneller als hemimetabole Insekten. Die Larven der Totengräber-Käfer etwa verhundertfachen ihr Körpergewicht in nur sieben Tagen.

Experimentell sind solche evolutionsbiologischen Thesen schwierig zu beweisen, denn sie beziehen sich auf lange und vergangene Zeiträume. Ergründen lässt sich jedoch eine weitere, nahezu philosophische Frage: Erinnert sich der Schmetterling daran, wie es ist, eine Raupe zu sein?

Die Nervenzellen speichern Erinnerungen aus dem Raupenleben

"Es ist schwer vorstellbar, wie eine solche Erinnerung möglich sein könnte", sagt der Entwicklungsbiologe Douglas Blackiston. Nach heutigem Kenntnisstand besäßen Insekten kein Bewusstsein ihrer selbst, das dem menschlichen ähnelt. Aber: Sie sind in der Lage, einfache Zusammenhänge zu erlernen. Dass im Raupenleben erworbenes Wissen die Metamorphose überdauern kann, zeigte Blackiston 2008 in einer bis heute viel beachteten Studie.

Sein Team brachte Raupen des Tabakschwärmers bei, den fruchtigen Duft des Gases Ethylacetat mit einem leichten elektrischen Schlag zu assoziieren. Fortan gingen sie dem Geruch aus dem Weg. Sie mieden ihn selbst nach der Verwandlung zum Nachtfalter – allerdings nur dann, wenn sie im letzten Raupenstadium konditioniert worden waren. Hatten sie hingegen als junge Larven gelernt, waren die Erinnerungen ausgelöscht.

Eine präzise Choreografie aus Zerstörung und Bewahrung

Blackiston vermutet den Grund dafür in der Entwicklung des Insektenhirns. Gespeichert wird das Gelernte in Nervenstrukturen namens Pilzkörpern. Sie sind für die Verarbeitung von Sinnesreizen verantwortlich. Manche bilden sich im frühen Raupenstadium, manche kurz vor der Metamorphose, wieder andere erst in der Puppe. Beobachtungen an anderen Insektenspezies zeigen, dass die Synapsen in den frühesten Pilzkörpern während der Verwandlung gekappt werden. Mit den Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen gehen auch jegliche Erinnerungen verloren. In Pilzkörpern, die sich erst kurz vor der Verwandlung bilden, überleben die Verbindungen jedoch – und mit ihnen die gespeicherten Informationen.

Die Puppen, sie mögen wie leblose Skulpturen der Natur anmuten. Doch in ihrem Innern vollzieht sich eine präzise Choreografie aus Zerstörung und Bewahrung. Unter der kunstvoll gestalteten Hülle aus Chitin tobt das wilde Leben.

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