Am 6. April 1994 schien über Kiel die Sonne, bei leichter Bewölkung. Ich weiß das, weil ich damals ein wissenschaftliches Tagebuch geschrieben habe. Ich war 13 Jahre alt und wollte Forscherin werden. Meine Exkursionen führten mich in ein halbwildes Kleingartengebiet am Rand der Stadt, zwischen einem Friedhof und dem Logistikzentrum eines Supermarkts.
Da lag ein namenloser Tümpel, kaum größer als drei Badewannen. Und obwohl ich auch Hummeln beobachtete und in Mäuselöchern herumstocherte, zog es mich immer wieder zum Wasser zurück. „Ich fischte eine Stunde lang“, notierte ich mit schwarzer Tinte, „meine Ausbeute: eine Wasserassel (sie rennt in meiner zum Aquarium umfunktionierten Glasvase andauernd im Kreis herum), ein Egel, wahrscheinlich ein Hundeegel, zwei Köcherfliegenlarven und zwei Tiere, die ich noch nicht näher bestimmen konnte.“
Meine Aufzeichnungen zeigen zwei Dinge: Erstens, ich war ein merkwürdiges Kind. Und zweitens, es gibt für ein merkwürdiges Kind, das wilde Tiere in freier Natur beobachten möchte, kaum einen besseren Ort als das, was die Limnologen „Stillgewässer“ nennen. Limnologen (von griechisch limne, der See) sind Menschen, die sich hauptberuflich mit Binnengewässern beschäftigen, mit Bächen, Flüssen, Teichen, Seen.
Sie kennen neben den Fließgewässern mehrere Dutzend verschiedene Stillgewässer – von Dendrotelmen, Asthöhlen, in denen sich Regenwasser sammelt, bis zu Kraterseen in erloschenen Vulkanen. Sie erforschen Pfützen, Baggerseen und Qualmwassertümpel, die sich bei Hochwasser in Flussauen hinter Deichen bilden.
Limnologen unterscheiden sehr genau zwischen den kleinen Wassern, die unsere Umgangssprache zusammenwirft: Ein Teich ist von Menschen gemacht, hat einen Zu- und einen Abfluss und kann jederzeit trockengelegt werden. Ein Weiher entsteht natürlich, ebenso wie der Tümpel, der aber so klein ist, dass er gelegentlich austrocknet (auch eine Pfütze ist, limnologisch, ein Tümpel). Alle drei vereint, dass sie nicht besonders tief sind, das unterscheidet sie vom See.
Noch etwas haben Teich, Tümpel und Weiher gemeinsam: Sie sind so unscheinbar wie aufregend. Hier lässt sich erkennen, wer wen frisst. Wie Wärme und Kälte das Leben beeinflussen. Wie Sauerstoff zirkuliert, was zu viele Algen auslösen oder eingeschleppte Arten. Sie zeigen, wie Vorgänge in der Natur zusammenhängen: Nicht zufällig entwickelte sich die Ökologie im 19. Jahrhundert vor allem aus der Limnologie.
An wenigen Orten leben so viele verschiedene Tiere und Pflanzen auf einem Fleck. Insgesamt fanden Biologen an deutschen Süßgewässern (Flüsse mitgezählt) allein 6000 Arten von Wirbellosen, 600 Arten größerer Pflanzen wie Farne, 81 Libellen-, 21 Amphibienarten und 315 Köcherfliegen-Spezies.
Meine Larven taufte ich Neptun und Aphrodite, eine willkürliche Geschlechtszuschreibung. Neptun hatte sich sein Gehäuse aus Pflanzenstängeln, Aphrodite ihres aus Schneckenhäuschen gebaut. Ich träumte von Expeditionen nach Afrika und hatte zum ersten Mal das Gefühl: Ich schaue wilden Tieren dabei zu, wie sie wilde Tierdinge tun.
Die Jahre sind gegangen, die Faszination geblieben
Knapp ein Vierteljahrhundert später, fast auf den Tag genau, trete ich wieder an das Ufer eines namenlosen Stillgewässers. Ein Weiher am Rand einer Kuhweide in der Holsteinischen Schweiz, wenige Kilometer von jenem Ort entfernt, wo ich einst die beiden Larven aufgesammelt hatte.
Regen rauscht in den Bäumen, während ich durch das Unterholz am Ufer lärme. Dann sitze ich, bin still, und um mich herum wird es laut: Moorfrösche knarren wie schlecht geölte Türen. Ihre Balzrufe übertönen das Blip, Blip der Tropfen auf dem Wasser. Ein Schwan startet mit geräuschvollen Flügelschlägen, ein Blesshuhn kiekst.
Stillgewässer heißen so, weil sie nicht fließen. Aber in ihrem Namen liegt auch eine Aufforderung zum Nichtstun. An einem Teich muss man bleiben. Wer verstehen will, was diese Orte ausmacht, der braucht Geduld. Dann trauen sich nicht nur die Blesshühner aus der Deckung, dann wird auch klar, dass kein Stillgewässer wie das andere ist.
Wie tief ist der Weiher? Eine Handspanne mehr Wasser kann darüber entscheiden, ob im Sommer Algen blühen. Reflektiert heller Sand das Sonnenlicht? Dann wird das Wasser langsamer warm als in einem gleich großen Gewässer, dessen dunkler Grund aus vermodernden Blättern besteht.
Der namenlose Weiher auf der Weide: umzogen von Schilf, offen, von der Sonne beschienen, wenn es der norddeutsche Frühling zulässt. Weil er so flach ist und sich bis zum Grund erwärmt oder durchkühlt, gerät die gesamte Wassermenge in Bewegung, wenn das Wetter umschlägt: Sie wälzt sich an nur einem Tag um. In einem See geschieht dies meist nur zweimal im Jahr. Viel schneller zersetzen Bakterien Pflanzenreste, viel schneller laufen chemische Prozesse ab, viel mehr Wasser verdunstet: In dieser Hinsicht gleicht ein mitteleuropäischer Tümpel eher einem tropischen See.
Der Fotograf Solvin Zankl hat zwei norddeutsche Weiher ausgesucht, um über Monate das Leben in ihnen zu dokumentieren. Er wohnt in Kiel, das ist einer der Gründe, warum ich wieder in Holstein tümpele (so nennen es Hobby-Limnologen, wenn sie in Uferschlamm herumstochern und Fröschen nachspüren). Außerdem bietet sich der Norden dafür besonders an: Hier haben die Gletscher der jüngsten Eiszeit viele Stillgewässer hinterlassen.
Eigentlich kein Wunder, dass ausgerechnet in meiner Heimat einer der Ursprünge der Limnologie liegt.
Als ich mit 13 Jahren im Moder hockte, hatte ich noch nichts von Karl August Möbius gehört, mehr als 100 Jahre vorher Rektor der Universität Kiel. Möbius war Zoologe und einer der Väter der Ökologie: Er prägte den Begriff Biozönose, Lebensgemeinschaft. Damit beschrieb Möbius alle Organismen, die in einem bestimmten Biotop leben. Er wollte Tiere nicht bloß fangen und einlegen, Pflanzen nicht nur vermessen und katalogisieren. Er wollte verstehen, wie sie in ihrem Lebensraum miteinander funktionieren.
Und er wollte, dass es auch andere verstehen. Biologieunterricht in Preußen, das hieß: im Klassenzimmer sitzen und Taxonomie pauken, wissenschaftliche Namen herunterrattern. Möbius wollte das ändern und stieß bei seinem Studenten Friedrich Junge auf besonders offene Ohren: Junge schrieb das Buch „Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft“, wurde damit einer der Vorreiter der Limnologie und hatte auch die damals revolutionäre Idee, mit Schülern draußen Tiere zu beobachten. Und wo arbeitete Junge als Lehrer? In Lütjenburg, zehn Autominuten von Solvin Zankls Weihern entfernt. Auch die erste deutsche Station für Süßwasserforschung entstand 1891 ganz in der Nähe: am Plöner See.
Bestandsaufnahme am Grundlosen See
Eine Viertelstunde zu Fuß entfernt vom Weiher auf der Kuhweide liegt im Wald ein anderes Stillgewässer, das sogar einen Namen trägt, wenn auch einen irreführenden: Der Grundlose See ist ein Überbleibsel der letzten Eiszeit und war wahrscheinlich früher wirklich tief. Heute bringt er es in der Mitte gerade mal auf zwei Meter fünfzig und ist damit nicht nur nicht grundlos, sondern eigentlich auch kein echter See.
Erlen umstehen ihn, typische Uferbewohner. Viele ihrer Wurzeln reichen nicht tief, denn das Grundwasser steht hoch in diesen Zonen. Es drängt Sauerstoff aus der Erde, schlechte Bedingungen für Bäume. Doch die Erle geht eine Symbiose mit Bakterien ein: Sie sitzen in Wurzelknöllchen und wandeln Stickstoff aus der Luft für die Erle um. Im Gegenzug füttert der Baum die Mikroorganismen mit Kohlenhydraten.
Am Grundlosen See ist es so dunkel, wie es am Weiher auf der Weide hell ist. Während dort die Moorfrösche knattern, wandern hier Erdkröten durch Buschwindröschen. Unbeirrbar dorthin, wo sie einst geschlüpft sind. Der Boden scheint sich zu bewegen. Auf dem Erlenlaub vom vergangenen Herbst glitzert Laich, es ist der Überrest eines Krötenweibchens. Vermutlich hat eine Ringelnatter es erwischt.
Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere, Insekten, Spinnentiere: Weiher bieten sämtlichen Tiergruppen Heimat, (mit wenigen Ausnahmen, wie den Seesternen, die Salzwasser brauchen). Wer Zeit mitbringt und ein Taschenmikroskop, kann sich quer durch Taxonomie und Entwicklungsgeschichte forschen.
Einzeller tummeln sich im Plankton, Bärtierchen und Wasserflöhe; Algen, Pilze und Blütenpflanzen gedeihen im Wasser. Pfirsichfarben überzieht ein Süßwasserschwamm Erlenäste, die im Herbst in den Weiher geweht wurden.
Selbst eine winzige Qualle schwebt durch viele europäische Binnengewässer: Craspedacusta sowerbii, im 19. Jahrhundert aus Asien eingeschleppt.
Kleine orangefarbene Bälle mit unscheinbaren Füßchen treiben im teebraunen Wasser des Grundlosen Sees: Milben. Eine Teichmuschel sitzt im Uferschlamm. 40 Liter Wasser filtern manche Arten am Tag, in verschmutzten Gewässern allerdings überleben Süßwassermuscheln meist nicht lange. Dass dieses Exemplar im Grundlosen See steckt, ist eines der Zeichen dafür, dass er gesund ist. Die vielen verschiedenen Lebewesen, die in ihm vorkommen, sind ein anderes. Je schlechter es einem Gewässer geht, desto artenärmer wird es, bis es umkippt und stirbt. In einem gesunden Weiher dagegen funktioniert die Biozönose, Möbius’ Lebensgemeinschaft.
Gefräßige Libellenlarven vertilgen Kaulquappen, Graureiher schnappen sich Stichlinge. Taumelkäfer klammern sich an Wasserpflanzen, um nicht wie eine Rettungsboje wieder an die Oberfläche zu ploppen. Kugelalgen, die unter dem Mikroskop wie schimmernde Planeten aussehen, betreiben Fotosynthese und entlassen winzige Sauerstoffperlen ins Wasser.
Zwei Monate später ist der Laichplatz der Moorfrösche am Rande des namenlosen Weihers trockengefallen, doch das limnische Liebesleben geht weiter. Zahnstocherdünne Prachtjungfern sind zu Herzen verflochten, oder, wie Biologen es nennen, zu Paarungsrädern. Das Männchen muss zunächst Sperma vom neunten Hinterleibssegment ins Begattungsorgan im zweiten Segment transferieren, bevor das Weibchen seinen Hinterleib durchbiegt – eine komplizierte und einzigartige Vermehrungstechnik. Einige Libellenarten benötigen nur Minuten für den Paarungsakt, andere bleiben stundenlang zum Herz gesteckt.
Manche balancieren dabei auf der Schneide eines Schilfblatts, während ihre größeren Verwandten über dem Weiher patrouillieren: Großlibellen jagen im Sturzflug und mit scharfen Wendemanövern nach kleineren Insekten. Sie fliegen bis zu 40 Stundenkilometer schnell.
Ein rotes Exemplar landet federleicht auf der Entengrütze aus winzigen Wasserlinsen, die inzwischen den gesamten Weiher überziehen. Jede lässt eine Wurzel ins Wasser baumeln, über die sie Nährstoffe aufnimmt und mit der sie sich wie mit einem Bootskiel stabilisiert. Die Zwergwasserlinse, kleinste Blütenpflanze der Welt, kommt sogar völlig ohne Wurzeln aus – in Deutschland ist sie allerdings sehr selten.
Ein Teichfrosch springt in die grüne Decke und hinterlässt ein Loch, ein Blesshuhn folgt den eigenen Spuren wie auf einem Straßennetz, der Teich sieht aus wie marmoriert.
Das artenreiche und sensible Ökosystem Weiher
Neuston, das Schwimmende, nennen Wissenschaftler die dünne Schicht an der Wasseroberfläche, ein Lebensraum mit anspruchsvollen Bedingungen: Tiere und Pflanzen sind hier mehr schädlicher ultravioletter Strahlung ausgesetzt als anderswo im Weiher, und die Temperatur schwankt stark. Gefahr durch Feinde droht aus dem Wasser und aus der Luft. Deshalb liegen zum Beispiel beim Taumelkäfer die Augen so, dass er Luftraum und Unterwasserwelt gleichzeitig im Blick behält. Er rast in unvorhersehbaren Spiralen über den Weiher, nimmt nie den geraden Weg und kann blitzschnell abtauchen. Mit einem Körper wie ein kleines Boot und Hinterbeinen wie Rudern ist er an die Zwischenwelt der Wasseroberfläche perfekt angepasst.
Auf dem Grundlosen See beherrschen die Wasserläufer das Neuston, jeder Fuß mit Zehntausenden wasserabweisenden Härchen bedeckt. So viele von ihnen sind Ende Mai unterwegs, dass es aussieht, als würde es regnen. Jede dieser Wanzen erzeugt eine winzige Welle, auf der sie bis zu einen Meter weit vorwärtssurft.
Die gelben Blüten der Teichrose öffnen sich zu dieser Zeit. Sie schafft den Spagat zwischen dem modrigen Grund, in dem sie wurzelt, und Licht und Luft an der Oberfläche. Bis zu sechs Meter überbrückt sie dafür mit ihren Stängeln, den längsten Blattstielen Europas.
Rund 20 Liter Luft durchströmen die Stängel der Teichrose an einem Tag, zu den Wurzeln gepumpt von den Schwimmblättern: Weil ihre Unterseite ein wenig kühler ist als ihre von der Sonne aufgeheizte Oberseite, entsteht ein leichter Überdruck und zwingt Sauerstoff dorthin, wo auf andere Weise kein Sauerstoff ankommt. Die Blätter sind wie ein Schwamm gebaut und haben so viel Auftrieb, dass sich ein Frosch auf ihnen ausruhen kann.
In der Dämmerung übernehmen Fledermäuse die Lufthoheit über dem Wasser, zickzacken durch den blassblauen Himmel, während die Venus über Holstein aufscheint. Sie profitieren von einem Büfett: Weiher wie dieser sind Hotspots der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft. Wo verlandete oder überwucherte Gewässer restauriert werden, nimmt die Menge der Insekten um das 25-Fache zu – und mit ihr die Zahl der Vögel und anderer Insektenfresser.
Der menschliche Einfluss ist allgegenwärtig
So wie sich große ökologische Zusammenhänge an einem kleinen Weiher nachvollziehen lassen, so deutlich werden hier auch die Katastrophen: Intensive Landwirtschaft, neue Wohn- und Industriegebiete haben in den vergangenen Jahrzehnten Zehntausende Stillgewässer vernichtet.
Und während Limnologen in den Frühtagen ihrer Wissenschaft Weiher als Mikrokosmen wahrnahmen, als Aquarien im Freien, untersuchen sie heute vor allem die Wechselwirkungen zwischen Kleingewässern und ihrer Umwelt. Der Grundlose See liegt geschützt zwischen Bäumen, der Regen schwemmt keinen Dünger in sein Wasser. Aber auch auf der schmalen Straße am Waldrand kleben überfahrene Kröten. Die Zoologische Gesellschaft in London schätzt, dass die Hälfte der europäischen Lurche bis zum Jahr 2050 aussterben könnte. In Deutschland steht jede zweite Amphibienart auf der Roten Liste. Die Idee des Dorfschullehrers Friedrich Junge und seines Professors Karl Möbius, Menschen über den Teich die Natur nahezubringen – sie ist heute noch wichtiger.
Ende August schmecken die Brombeeren sonnensüß, den Blesshühnern folgen vier halbwüchsige Küken. Sprühregen weht über den Grundlosen See, der Wind stellt die Teichrosenblätter wie Segel auf. Wieder bewegt sich der Boden: Winzige Kröten mit ernsten Gesichtern sind auf dem Weg in den Wald, und wieder finden Ringelnattern ausreichend zu fressen. Wer überlebt, wird an diesen Ort zurückkehren. So wie ich. Wenn nicht an dieses Stillgewässer, dann, still, an ein anderes Gewässer.
Ich weiß nicht, was aus Aphrodite und Neptun wurde, den beiden Köcherfliegenlarven – mein Forschungstagebuch bricht nach drei Tagen ab. Ich hoffe, ich habe sie freigelassen. Ich musste einsehen, dass mir die Hartnäckigkeit fehlt, mit der echte Wissenschaftler ausdauernd auf Tiere starren.
Aber ich habe damals außer dieser wichtigen Erkenntnis noch andere Eindrücke von meinen Nachmittagen am Wasser mitgenommen. Den Geruch von Minze und Moder. Und eine Vorliebe für Tümpel, Teiche, Weiher. Die unscheinbarsten und wildesten Orte in unserer Nachbarschaft.