Das Tier war 28 Kilogramm schwer, männlich, muskulös. Und womöglich ein guter Schwimmer. Nicht ausgeschlossen, dass der Eber den Rhein auf dem Wasserweg überquert hatte und so nach Mainz gekommen war. In der Stadt aber sorgte das Wildschwein in den vergangenen Tagen für Aufsehen.
Ein Tier aus der Wildnis, nun mitten in der städtisch-zivilisierten Welt. Eine potenzielle Gefahr, für Passanten und den Verkehr. Immer mal wieder tauchte der Keiler auf und verschwand, bevor die Polizei anrückte. In der Nacht zu Donnerstag dann konnten Einsatzkräfte das Wildschwein per Wärmebilddrohne nahe der Theodor-Heuss-Brücke orten. Und so fand der "Eindringling" sein Ende: Ein Jäger erschoss den Eber.
Hielten sich Wildschweine früher nur in den Forsten und Stadtwäldern auf und wagten sich nächtens hin und wieder auf Äcker, entdecken sie seit vielen Jahren mehr und mehr den urbanen Raum. Und mit ihnen viele andere Wildtiere. Berlin ist hierzulande auch ihre Hauptstadt.
Schätzungen zufolge leben in der Spreemetropole mehr als 1000 Waschbären, 5000 Wildschweine und viele Tausend Füchse, Marder, Kaninchen. Am Ufer des Teltowkanals, der im Süden die Metropole durchquert, haben Biber ihre Burgen errichtet. In Berlin-Mitte gehen Wanderfalken auf Taubenjagd, ein Brutpaar der Greifvögel nistet im Roten Rathaus. Und im Hof einer Charlottenburger Wohnanlage hat sich ein Uhu angesiedelt.
Berlin ist nur eine von vielen Städten in Deutschland, ja weltweit, die für Tierfreunde zum überraschenden Naturerlebnis werden können. Ob Habichte in Hamburg, Bergmolche und Laubfrösche in München, zahme Graureiher in Amsterdam, streunende Leoparden in Mumbai, Scharen lärmender Flughunde im Hyde Park von Sydney: Die Natur ist auf dem Vormarsch ins Urbane. Tiere tauschen Felder und Wälder, Wiesen und Weite gegen Beton, Asphalt und menschliche Nachbarschaft.
Immer schon sind Tiere dem Menschen in seine Siedlungen gefolgt
Dass Vögel und Vierbeiner unsere Nähe suchen, ist im Grunde kein neues Phänomen. Schon immer sind Tiere dem Menschen in seine Siedlungen gefolgt, haben sich dort gewissermaßen häuslich eingerichtet. Zu den Altbekannten und höchst Erfolgreichen dieser "Kulturfolger" gehören Hausmäuse und Hausratten, Stadttauben und natürlich kleines Getier wie Bettwanzen, Stubenfliegen und Küchenschaben.
In dem Maße, wie Städte weltweit gewachsen und komplexer geworden sind, bieten sie auch mehr Möglichkeiten für Tiere. Auf der einen Seite fressen sich die urbanen Zentren ins Umland, rauben der Natur Raum, auf der anderen Seite eröffnen mehr Häuser und Parks auch ein Plus an Nischen, Unterschlupfen, Nistplätzen. Die Stadt, ein gigantisches Kunstfelsmassiv aus Milliarden Tonnen Stein und Stahl. Ein Zoo ohne Zaun.
Neben der behaglichen Wärme und der Tatsache, dass es in Städten schlicht friedlicher zugeht als im Umland (schließlich laufen dort weit weniger Jäger rum), lockt die Tiere vor allem eines ins Menschenland: Futter!
Gerade heutzutage, in Zeiten des Überflusses, wo Unmengen an Nahrhaftem buchstäblich auf dem Müll landen, freuen sich findige Tiere über einen reich gedeckten Tisch. In Deutschland enden Jahr für Jahr 13 Millionen Tonnen Essensreste im Abfall. Allein in Privathaushalten schmeißen Menschen durchschnittlich gut 85 Kilogramm Lebensmittel weg. Mülltonnen voller Brot, Käse, Wurst und Joghurt, voll von überreifem Obst, Gemüseschnitt und Süßwaren: Das sind wahre Supermärkte für Allesfresser wie Schwein, Fuchs oder Waschbär.
In den Städten finden manche Tiere ein regelrechtes Schlaraffenland vor
Im Vergleich zum städtischen Überangebot nimmt sich das Umland — landwirtschaftlich geprägte Flächen und eintönige Monokulturen — vielerorts geradezu karg aus. So kommt es, dass zum Beispiel in Berlin inzwischen weit mehr Füchse leben als auf vergleichbarer ländlicher Fläche.
Intelligente, anpassungsfähige Tiere können besonders gut von Wildnis auf Stadt umschalten. Manches Wildschwein etwa hat gelernt, durch Gurte gesicherte Mülltonnen in Parkanlagen zu öffnen. Zunächst schmeißt es den Behälter um, löst dann geschickt mit seinen Hufen die Spanngurte um den Deckel und öffnet die Tonne schließlich mit der kräftigen Schnauze. Dann heißt es: ganz entspannt Reste fressen, statt im Wald mühsam Eicheln zu suchen. Ist Nachwuchs in der Nähe, gelangt das neu erworbene Wissen direkt an die nächste Generation: Frischlinge schauen genau zu, was ihre Mutter macht, lernen von ihren Eltern.
Verhaltensänderungen, Migration von Arten, das Neben- und Miteinander von Mensch und Tier: All das sind Phänomene, die zunehmend in den Fokus von Wissenschaftlern geraten. Unter Biologen lange Zeit eher als Nebensache abgetan, etabliert sich eine neue Forschungsdisziplin: die Stadtökologie.
Noch sind viele Fragen nicht gänzlich geklärt: Warum zieht es gerade in den letzten Jahren so auffallend viele Tiere in die Metropolen? Welche Arten sind besonders anpassungsfähig, profitieren mehr als andere von der Urbanisierung? Wo genau halten sich Waschbär und Co. im Wirrwarr der Straßen und Grünanlagen auf? Wann und wie bewegen sie sich von Ort zu Ort — wenn man so will: Wie sieht der Stadtplan eines Fuchses aus? Und inwiefern wandelt sich die Lebensweise der tierischen Stadtbewohner?
Immer mehr zeigt sich: So wie der Mensch sich ändert, so ändern sich auch die Tiere. Zum Beispiel Graureiher: Seit sie nicht mehr bejagt werden, siedeln sich immer mehr Brutpaare in den Städten an. Und zunehmend verlieren die vormals ängstlichen Wasservögel ihre Scheu, verringert sich ihre Fluchtdistanz. In Amsterdam flanieren sie zuweilen über Straßen oder Marktplätze, warten auf Bürgersteigen darauf, mit Fisch gefüttert zu werden.
Der Zuzug der Fauna hat letztlich mit der Zerstörung natürlicher Lebensräume zu tun
Nicht alle distanzlosen Tiere sind allerdings so gern gesehen wie Graureiher. Wenn Wildschweine Blumenrabatten, Vorgärten oder Fußballfelder umwühlen, wenn Steinmarder Autokabel durchbeißen, wenn Waschbären und Füchse lärmend in Mülltonnen stöbern, fühlen sich immer mehr Städter gestört und bedrängt. Berlin beschäftigt seit einigen Jahren eigens einen Wildtierbeauftragten, der sich nicht nur um verletzte Tiere kümmert, sondern auch Bürgern hilft, die sich von aufdringlichen Schweinen genervt fühlen.
So sehr sich manche Tiere ans Urbane gewöhnen, so sehr auch viele Städte zu neuen Inseln der Vielfalt werden, man darf nicht vergessen: Der Zuzug der Fauna hat nicht zuletzt auch mit der Zerstörung natürlichen Lebensraums zu tun. So hat beispielsweise die Forstwirtschaft mancherorts mehr und mehr Spechte aus den Wäldern vertrieben. Geeignete Altbäume zum Nisten finden die Vögel inzwischen eher in Stadtparks und auf Friedhöfen.
Zahlreiche andere Arten, die auf eine möglichst von Menschen ungestörte Natur angewiesen und nicht flexibel genug sind, ins Städtische auszuweichen, gehören zu den großen Verlierern der modernen Urbanisierung. Und eine traurige Zahl spricht auch für sich: Jedes Jahr sterben hierzulande wohl mehr als 100 Millionen Vögel, weil sie gegen Fenster und Glasfassaden fliegen.