Chris Sandeman, Brite
Chris Sandeman hat ein Auge für Ahnungslose. Er hat sie gleich gesehen, die junge Frau mit dem Stadtplan, er setzt sich zu ihr an den Cafétisch. Eine Viertelstunde später glaubt sie, Berlin zu kennen. Der smarte Brite hat ihr vom Holocaust-Mahnmal erzählt, ein paar Worte über Mitte verloren, dessen Szenevolk und die Stasi; die Touristin weiß nun, wo der Jüdische Friedhof liegt und dass in Kreuzberg mehr Türken leben als anderswo außerhalb der Türkei.
Was sie nicht weiß: Sandeman hat ein Geschäft daraus gemacht, junge Touristen durch die Stadt zu führen und dabei seine Ein-Mann-Show abzuliefern. „Ich muss die Leute zum Lachen und Weinen bringen“, sagt er. Denn nur so bekommen er und seine Mitarbeiter Trinkgeld; vor allem aber Werbeeffekte: Wem die Gratis-Tour gefallen hat, der bucht bei Sandeman noch eine Führung, gegen Gebühr: ob „Third Reich Berlin“ oder „Red Berlin: Secrets of the Communist Capital“. Oder die „Pub Crawls“: Für zwölf Euro führt Sandeman durch fünf Bars, Gratis-Alkohol inklusive. Er war der Erste, der diese Tour angeboten hat. Seitdem gehören Gruppen, die betrunken durch Mitte stolpern, zum Stadtbild. Über die „Pub Crawls“ spricht Sandeman nicht gern.
Mittlerweile ist seine 2004 gegründete Firma Sandemans New Berlin in die
Metropolen sieben weiterer Länder expandiert. Unter anderem nach England, wo Sandeman als jüngster Sohn der gleichnamigen Sherry-Dynastie in Sussex auf die Welt kam. Er hat Psychologie in Yale studiert. Ein Millionenerbe, der aus einer Laune heraus im Sommer 2002 nach Berlin gekommen ist und sich erst in seine Mitbewohnerin, dann in die Stadt verliebt hat. Er sieht auf die Uhr und sagt zu der jungen Frau am Tisch: „Wenn du Zeit hast, in zehn Minuten fängt eine Tour an, direkt hier vor der Tür.“
Saim Aygün, Türke
Saim Aygün ist streng. „Sehen Sie diesen Koch?“, fragt er und zeigt auf einen Computerbildschirm. „Der Mann trägt keine Mütze, das geht nicht.“ Von seinem Büro in Kreuzberg aus hat Aygün die Küchen seiner Restaurants im Blick. In jeder hängt eine Kamera und überträgt die Bilder direkt an seinen Schreibtisch. Aygün geht es um Disziplin. „Sonst“, meint er, „wären wir nicht so weit gekommen.“
Wir, das sind Saim, Hussein und Mehmet – drei Brüder, die die sechs Hasir-Lokale betreiben: „drei mit Döner, drei ohne“. Was heißen soll, dass zur einen Hälfte der Restaurants auch ein Imbiss gehört. „Wir sind die besten“, sagt Aygün und zeigt ein Foto, auf dem zwei ehemalige Hertha-Spieler an einem seiner Döner-Grills zu sehen sind. Dann erzählt Aygün von Politikern, die zu Gast bei ihm waren, und wenn man fragt, wer, sagt er: alle. Kanzler, Minister, alle – und macht dabei eine lässige Handbewegung, als sei das nicht der Rede wert.
1971 hatte Mehmet, der älteste Bruder, die Idee, Döner im Brot zu verkaufen. Er war damit der Erste, in seinem Restaurant in Kreuzberg. Heute gibt es Aygün-Restaurants in Mitte, Spandau, Schöneberg und Wilmersdorf. Die Aygüns, könnte man sagen, haben ein Stück Kreuzberger Lebenskultur in die bürgerlichen Viertel exportiert. An der Wand hinter dem Chef-Schreibtisch hängt ein Foto des verstorbenen Vaters. Der Vater, glaubt Saim Aygün, wäre stolz auf seine Jungs; er, der einst selbst zwei Feinkostläden am Schwarzen Meer geführt hat.
Seit 30 Jahren ist der Sohn in der Gastronomie. In dieser Zeit hätten sich die Gäste einander angepasst, sagt er: „Früher haben die Deutschen keinen Knoblauch gegessen, heute tun sie’s, aber viele Türken mögen ihn nicht
mehr.“ Er lacht kurz und schaut dann wieder ernst auf den Bildschirm. Der Koch trägt noch immer keine Mütze. Er wird gleich einen Anruf bekommen.
Tigran Markarian, Russe
Einmal im Monat fährt Tigran Markarian den Reichtum anderer Menschen aus. Dann dreht er seine Runden auf dem Berliner Autobahnring, erst mit einem Mercedes 560 SEC, dann mit einem BMW 850 oder Mercedes 500 SL. Er hat ein Dutzend dieser Liebhaberfahrzeuge, und jedes einzelne muss gepflegt werden, als wäre es sein eigenes. Markarian ist Autoverwalter für wohlhabende Russen. „Letztlich“, sagt er, „ist es eine Art Hausmeisterjob.“ Er putzt und wäscht und achtet darauf, dass die Wagen auch in der Wartezeit keinen Schaden nehmen. Sie parken in einer Tiefgarage in Moabit, bis ihre Besitzer aus Moskau – Geschäftsleute, meist aus der Baubranche – wieder einmal vorbeischauen auf ihren Jetset-Touren um die Welt.
Wenn Markarian von den Autos erzählt, die er auf Bestellung in ganz Europa sucht und kauft, dann wird er selbst zum Jungen, der sich an PS-Zahlen, Baureihen und V-12-Motoren berauscht. „Cooler Job“, sagt er, „ich kann diese Wagen fahren und werde dafür sogar bezahlt.“
In Berlin ist der 37-Jährige aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat ein Jura-Studium abgebrochen. Seine Mutter ist Russin, der Vater Armenier. Die meisten seiner Kunden sprechen weder Deutsch noch Englisch, sie brauchen jemanden, der sie versteht, einen wie Markarian, der selbst zwischen Berlin und Moskau pendelt. Er hat beide Seelen in sich, die deutsche und die russische.
Berlin hat Russen schon immer angezogen. Zu Zeiten der Oktoberrevolution kamen Hunderttausende, Charlottenburg nannten sie damals „Charlottengrad“. Später folgten die jüdischen Immigranten und Aussiedler. Und es war klar, dass irgendwann auch die neuen Reichen erscheinen würden. Heute schätzt man die Zahl der russischsprachigen Berliner auf bis zu 200 000. Für sie gibt es eigene Zeitungen, Radiosender, Theater – und jede Menge exklusive Boutiquen rund um den Ku´damm. „Status-Symbole sind für Russen sehr wichtig“, sagt Markarian, und er weiß, wovon er redet. Derzeit ist er auf der Suche nach einem seltenen Mercedes 450 SLC 5,0. In der Tiefgarage in Moabit ist noch Platz für weitere Träume.
Van Dan Le, Vietnamese
„Mach dir keine Sorgen“, hat Van Dan Le zu seiner Mutter gesagt. Wo er wohne, gebe es keine dieser Plattenbauten, nur schöne alte Häuser, die Menschen hätten „Niveau“, und sein Laden laufe gut. „Ich bin froh“, hat er ihr erklärt, „dass ich zu diesem Viertel gehöre.“ Seine Mutter lebt im Süden Vietnams, zuletzt hat er sie 1999 gesehen; aber er telefoniert alle zwei Wochen mit ihr.
Als Van Dan Le 1999 seinen Laden eröffnete, gab es im Bötzowviertel am Prenzlauer Berg noch viele leere Ladenlokale und unsanierte Häuser. Mittlerweile kultiviert das Eckhaus des Händlers beinahe als letztes eine graue Waschbetonfassade. Auf 180 Quadratmetern stapeln sich Waren von Bio-Dinkel-Bratlingen über Bio-Gouda bis zur Soja-Milch. Billiges Bier wie „Oettinger“, das Le zu Anfang noch verkaufte, läuft gar nicht mehr. Stattdessen hat er gerade eine Palette Münchner „Augustiner“ bestellt, weil Kunden danach gefragt haben. Die neuen Käufer wollen Markenware. Und Naturkost. Morgens steht Van Dan Le um 4.30 Uhr auf, um sich im Großhandel mit Bio-Maultaschen und Bio-Gnocchi einzudecken. Manchmal erzählt er der Mutter von seinen Kunden: den neuen, die er auch aus dem Fernsehen kennt, wie die Schauspielerin Nina Hoss; und den alten, die kommen, um sich zu verabschieden, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können.
Als Van Dan Le 1999 einen leer stehenden Laden suchte, hat er sich über den Kiez keine Gedanken gemacht. Er wollte es mit Lebensmitteln versuchen, nachdem er schon Blumen feilgeboten, in einem Imbiss und auf dem Großmarkt gearbeitet hatte. Mittlerweile ist Van Dan Le der Kaufmann von nebenan. Einer, der den Bewohnern des Viertels etwas veräußert, was kein noch so gut sortierter Supermarkt im Angebot hat: das Gefühl, als gebe es im neuen Wohlstand, der die Menschen hier zusammengewürfelt hat, noch immer die gute alte Nachbarschaft. Für seine Kunden ist er immer da, sieben Tage die Woche, von morgens bis spät abends. Seine Mutter fragt jedes Mal, wann er sie besuchen komme. Jedes Mal sagt er: „bald“.
Michael Blumenthal, Amerikaner
Er mag keine Nettigkeiten. „Sparen Sie sich jedes Geschmeichel“, sagt Michael Blumenthal zum Besucher. Dann lehnt er sich im Stuhl zurück und fragt: „Also, was wollen Sie?“ Es ist die Haltung eines Mannes, der weiß, dass er alles erreicht hat, und dessen Biografie gut zehn Lebensläufe ausfüllen könnte. Mit 65 US-Dollar in der Tasche kam er 1947 in die USA und avancierte zum Wirtschaftsprofessor in Princeton, zum Vorstandschef des Computergiganten Unisys; er war Berater von John F. Kennedy und zwischen 1977 und 1979 als Finanzminister seines Landes selbst einer der mächtigsten Männer der Welt. Einst Herr über Milliarden, kämpft er heute um 100-Euro-Spenden für das Jüdische Museum Berlin, dessen Gründungsdirektor er ist. Noch mit 83 Jahren kommt er fünf- bis sechsmal im Jahr über den Atlantik nach Berlin geflogen, um sich ehrenamtlich um das Museum zu kümmern. Er kann nicht anders.
Blumenthal kam 1926 in Oranienburg zur Welt, in einer jüdischen Familie. Er wuchs in Berlin auf und erinnert sich noch gut an den Anblick der Synagoge in der Fasanenstraße nach der Pogromnacht vom 9. November 1938; diese rauchende Ruine hat sich bei ihm eingebrannt. Im selben Jahr wurde sein Vater für sechs Wochen nach Buchenwald verschleppt, 1939 flüchteten die Blumenthals nach Shanghai. „Wenn Sie meine Geschichte kennen“, sagt er, „können Sie verstehen, warum meine Aufgabe in Berlin eine große Genugtuung für mich ist. Ich tue hier auch etwas für meine Klassenkameraden, die nicht überlebt haben.“ Amerikaner sagen dazu: „His life has come full circle.“ Der Kreis hat sich geschlossen.
Dass er sich in Berlin einmal willkommen fühlen könnte, war nach dem Krieg für ihn undenkbar – doch heute ist es so. Das jüdische Leben habe sich kolossal entwickelt, sagt Blumenthal. Es sind viele jüdische Einwanderer in die Stadt gekommen, aus der ehemaligen Sowjetunion, in jüngster Zeit auch aus den USA und Israel. Geschätzte 15 000 Juden leben mittlerweile in Berlin. Sie haben eigene Schulen gegründet und ein Rabbiner-Seminar. Die Symbole des Judentums schmücken die Oranienburger Straße, wo die Kuppel der Neuen Synagoge über die Stadt ragt. Es werde aber noch ein bis zwei Generationen dauern, schätzt Blumenthal, bis die letzte Mauer gefallen ist; jene zwischen deutschem und jüdischem leben.
Caroline Veyssière, Französin
Caroline im Wunderland. Anders lasse sich Berlin für sie kaum beschreiben, sagt Caroline Veyssière und schüttelt ungläubig den Kopf. „Operation Walküre“ mit Tom Cruise, „The International“, „Der Vorleser“ – drei Hollywood-Produktionen, die in Babelsberg und Berlin gedreht wurden. „Das ist für uns alle ein Traum“, sagt die Französin und meint: sich und ihre Kollegen beim Film.
Vor drei Jahrzehnten kam Caroline Veyssière nach Berlin, um eine Freundin zu besuchen. Berlin und Caroline – es war Liebe auf den ersten Blick. Die Nächte, die Kneipen, die Großstadtinsel, das hat die Frau, die in Royan an der französischen Atlantikküste aufgewachsen ist, fasziniert. „Berlin“, sagt sie, „war immer gut zu mir.“ Hier bot sich ihr ein Job im Synchronstudio. Später wurde sie Regieassistentin. Im Jahr vor dem Mauerfall war sie an einer Koproduktion mit dem DDR-Filmstudio Defa beteiligt und erstmals in Babelsberg. „Wir brauchten eine Kiste Obst als Requisite, und es hieß: ,Obst? Wir haben kein Obst, das müsst ihr mitbringen.‘ Das war Babelsberg“, sagt Veyssière. Und heute? Dreht am selben Ort Quentin Tarantino. In der Hauptrolle: Brad Pitt. Für das korrekte Umsetzen des Drehbuches zuständig: Caroline Veyssière. Das zu lesen, wird ihr gar nicht gefallen. Weil sie sich nicht hervorheben mag. Deshalb sagt sie lieber: „Diese Entwicklung ist toll für uns alle.“