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Identität Warum unser Ich viel facettenreicher ist, als wir denken

Die vielen Facetten in uns
Die Facetten in uns: Dass den permanenten Wandel an Bewusstseinszuständen nicht als ständigen Bruch unseres Ich erleben, verdanken wir der erstaunlichen Gabe unseres Hirns
© smartboy10/Getty Images
Wir halten unser Ich für eine unteilbare Einheit. Tatsächlich aber ist das, was wir als unser Selbst empfinden, aufgesplittert in verschiedene Bewusstseinszustände

Zwar fühlt es sich für uns so an, als sei unser bewusstes Ich eine unteilbare Einheit. Forscher haben jedoch herausgefunden, dass es – für Laien sicherlich verblüffend – mehrere Ich- Formen gibt, dass unser Bewusstsein offenbar in einer Vielfalt unterschiedlicher Gestalten auftreten kann. Dass also all das, was wir als in sich geschlossene Identität erleben, in Wirklichkeit ein zusammengesetztes Konstrukt aus verschiedenen Ich- oder Bewusstseinszuständen ist.

Hirnforscher und Neuropsychologen unterscheiden inzwischen bis zu neun Bewusstseinszustände, die wir jeweils mit unserem Ich in Verbindung bringen. Dazu gehören:

  • die Wahrnehmung von Vorgängen in der Umwelt und im eigenen Körper („Ich höre ein Geräusch, ich empfinde Schmerz, mich juckt etwas”)
  • mentale Zustände wie Denken, Erinnern, Vorstellen („Ich grübele über ein Problem, ich erinnere mich an einen Urlaub, ich überlege, was ich morgen machen werde”)
  • Bedürfnisse, Affekte, Emotionen („Ich habe Durst, ich bin erschöpft, ich ängstige mich”)
  • das Erleben der eigenen Identität und Kontinuität („Ich bin der, der ich gestern war”)
  • die Meinigkeit des eigenen Körpers („Dies sind meine Beine, meine Hände, mein Gesicht”)
  • die Autorschaft und Kontrolle eigener Handlungen und Gedanken („Ich möchte das tun, was ich gerade tue”)
  • die Verortung des Selbst in Zeit und Raum („Es ist Ostermontag, ich be- finde mich zu Hause”)
  • die Unterscheidung zwischen Realität und Vorstellung („Was ich sehe, existiert wirklich und ist kein Traum”)
  • das selbstreflexive Ich („Wer bin ich? Warum tue ich etwas?”)

Es mag ein wenig befremden, dass Wissenschaftler so scharf zwischen diesen einzelnen Bewusstseinszuständen unterscheiden – immerhin fühlt es sich für uns doch so an, als sei es stets dasselbe Ich, dass sich bewusst darüber ist, dass etwa unser Arm juckt, der Magen knurrt, dass wir gerade wach sind, in einer Zeitung lesen oder auf einem Bürostuhl sitzen.

Und doch: Jeder einzelne dieser Ich-Zustände kann ausfallen, ohne dass die anderen Ich-Zustände davon beeinträchtigt wären. Das zeigt sich an Patienten mit bestimmten neurologischen Störungen, die ihr Ich auf dramatische Weise anders wahrnehmen als Gesunde. So gibt es Menschen, die durch einen Hirntumor das selbstreflexive Ich verloren haben. Zwar spüren sie nach wie vor ihren Körper, können sprechen, sich Gedanken über die Zukunft machen – haben aber keinerlei Ahnung, wer sie sind: Sie erkennen sich nicht im Spiegel.

Facetten unseres Ich wechseln sich ständig ab

Andere Betroffene wissen nicht mehr, wo sie sich gerade aufhalten; oder sie behaupten, sie seien an zwei unterschiedlichen Orten gleichzeitig – und finden das durchaus nicht seltsam. Wieder andere sind sich zwar völlig bewusst darüber, wer sie sind und wo sie sich befinden; doch haben sie (etwa nach einem Schlaganfall) ihr Empfinden dafür verloren, dass ihr eigener Körper zu ihnen gehört, sie fühlen sich wie Geister in fremder Haut.

Die diversen Bewusstseinszustände sind in der Regel jedoch nicht alle gleichermaßen präsent: Vielmehr wechseln sich die Facetten unseres Ich ständig ab – wenn auch zumeist unmerklich. Es ist ein stetes Kommen und Gehen, ein Auf und Ab, das wir (wenn wir darauf achten) selber an uns beobachten können: In einem Moment denken wir vielleicht an den letzten Urlaub, dann aber stoßen wir uns an einer Türschwelle den Fuß, und Schmerz schnellt in unser Bewusstsein. Sobald der nachlässt, verblasst auch diese Körperwahrnehmung wieder; vielleicht wird uns stattdessen bewusst, dass wir hungrig sind, oder ein Geräusch lenkt die Aufmerksamkeit auf unsere Umwelt.

Geschichte des eigenen Ich entsteht im Gehirn

Dass wir diesen permanenten Wandel an Bewusstseinszuständen nicht als ständigen Bruch unseres Ich erleben, die Welt uns also nicht zerrissen erscheint, verdanken wir der erstaunlichen Gabe unseres Hirns, all diese Versatzstücke zu einer meist widerspruchsfreien, nahtlos zusammenhängenden Geschichte des eigenen Ich zu verweben.

Diese Geistesleistung erinnert ein wenig daran, wie wir die meisten Filme wahrnehmen: In der Regel stört es uns nicht, dass Szenen durch Schnitte voneinander getrennt werden, Bilder und Perspektiven mitunter rasch wechseln. Und ebenso vermögen wir die Szenen unseres Lebens zusammenzusetzen – zu einem bruchlosen Ich.

GEO Kompakt Nr. 57 - Das starke Ich

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