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Verfassungsreform Wie Wladimir Putin vom Handlanger zum Präsidenten aufstieg

Putin mit Soldaten
Als neuer russischer Präsident übernimmt Wladimir Putin 1999 ein Land am Abgrund. Er entmachtet viele Oligarchen, die den Staat nach dem Zusammenbruch der UdSSR jahrelang ausgeplündert haben, und bringt die Wirtschaft wieder auf Kurs. Und er tritt als harter Mann auf (hier mit Soldaten)
© AS Syndication/SPUTNIK/ullstein bild
Fügsam dient sich der Ex-KGB-Agent Wladimir Putin hoch, bis er schließlich ein enger Vertrauter von Russlands Präsident Boris Jelzin ist. Als die Oligarchen, die wirklichen Herrscher des Landes, 1999 einen Nachfolger für Jelzin suchen, fällt ihre Wahl auf den vermeintlichen Handlanger. Heute ist Putin zwei Jahrzehnte an der Macht

Es ist Mittwoch, der 23. Oktober 2002. Im ausverkauften Dubrowka-Theater von Moskau hat gerade der zweite Akt des Musicals „Nord-Ost“ begonnen. Sechs Schauspieler tanzen lächelnd auf der Bühne, als um 21.05 Uhr rund 40 schwarz vermummte Gestalten mit Gewehren in den Saal stürmen. Einer der Bewaffneten springt zu den Darstellern auf die Bühne, feuert in die Luft.

Die Musiker im Orchestergraben brechen ab, und der Angreifer ruft den mehr als 800 Zuschauern zu, sie seien Geiseln und dürften sich nicht bewegen.

In dem Musical nehmen Soldaten eine wichtige Rolle ein, und manche Besucher denken anfangs, all dies gehöre zur Aufführung. Doch dann wird auch ihnen klar, dass es ernst ist. Vereinzelt sind Schreie zu hören, einige Menschen weinen. Aber es bricht keine Panik unter den Gästen aus, alle bleiben in ihren roten Sesseln sitzen.

Tschetschenische Geiselnehmer wollen Gottesstaat errichten

Das Dubrowka-Theater liegt keine vier Kilometer vom Kreml entfernt. Die Terroristen haben es wohl auch aus symbolischen Gründen als Ziel gewählt: Das Musical „Nord-Ost“ verherrlicht die russische Historie – die Geschichte ihres Feindes.

Denn die Vermummten zählen zu tschetschenischen Islamisten, die im Kaukasus einen Gottesstaat errichten wollen und seit Jahren für die Unabhängigkeit ihrer Region von Russland kämpfen. Nun haben sie den Krieg in die Hauptstadt des Gegners getragen, an einen Ort, an dem allabendlich Russlands Größe gefeiert wird.

In einer zuvor aufgezeichneten Videobotschaft fordert Mowsar Barajew, der 22-jährige Anführer der Terroristen, den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Sonst würden er und seine Leute die Geiseln töten. Sie seien bereit, für ihre Sache zu sterben.

Unter den Angreifern sind auch Frauen, deren Männer oder Brüder von den Russen getötet worden sind – die russische Presse wird sie „schwarze Witwen“ nennen. Manche haben Sprengstoffgürtel um den Bauch geschnallt. Mit Klebeband befestigen die Geiselnehmer an Theatersesseln weitere selbst gebaute Bomben: Plastiktüten, gefüllt mit Sprengstoff und kleinen Eisenkugeln.

Draußen trifft Polizei ein; gemeinsam mit Soldaten aus einer Kaserne riegeln die Beamten das Theater ab – doch anfangs so lückenhaft, dass eine in der Nähe wohnende, möglicherweise betrunkene 26-jährige Frau am Morgen ins Gebäude gelangt, dort die Tschetschenen anschreit, die Menschen gehen zu lassen. Die Islamisten halten sie für eine Agentin des russischen Geheimdienstes und erschießen sie. Das erste Opfer.

Krieg in Tschetschenien machte Wladimir Putin groß

Am nächsten Tag rät der frühere KP-Chef Michail Gorbatschow öffentlich, den Terroristen freien Abzug und den Beginn von Friedensverhandlungen im Kaukasus zu garantieren, falls sie die Zivilisten freiließen.

Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin, der sich im Kreml über jede neue Entwicklung informieren lässt, müssen Gorbatschows Sätze klingen wie das Gerede eines entrückten Mannes. Der Krieg in Tschetschenien hat Putin groß gemacht. Ohne diesen blutigen Konflikt wäre er womöglich nie an Russlands Spitze gelangt. Der Feldzug war seine Botschaft an die Landsleute, dass die Zeit der Niederlagen vorbei sei.

Im Oktober 2002 nehmen 40 tschetschenische Terroristen in Moskau Hunderte Theaterbesucher als Geiseln. Putin lässt das Gebäude …
Im Oktober 2002 nehmen rund 40 tschetschenische Terroristen in Moskau Hunderte Theaterbesucher als Geiseln. Putin lässt das Gebäude stürmen
© ANTON DENISOV/AFP/Getty Images

Dass seine Truppen im Kaukasus seit Jahren (ebenso wie die Gegenseite) Menschenrechtsverletzungen begehen, kidnappen, foltern und morden, hat Putin nicht geschadet. Im Gegenteil: Nach den Demütigungen durch den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 teilen die meisten Russen offenbar seine Meinung, dass ihr Land keine weitere Schwächung mehr verkraften, keinen Zentimeter Land mehr abtreten könne.

Der kompromissbereite Gorbatschow verkörpert in ihren Augen das Siechtum der späten UdSSR, Putin dagegen das wiedererstarkende Russland. Der ehemalige KGB-Offizier schließt Verhandlungen mit den Geisel- nehmern aus und ordnet an, Spezialeinheiten des Geheimdienstes in einem baugleichen Moskauer Kulturhaus die Stürmung des Theaters trainieren zu lassen.

Tauschforderung: Geiseln gegen russische Abgeordnete

Zugleich verstricken gleich mehrere Unterhändler die Terroristen in ein Nervenspiel von ständig wechseln- den Forderungen und Angeboten. Ein in das Gebäude gelassener Arzt berichtet, es gehe den Geiseln den Umständen entsprechend gut, einige wirkten hysterisch, die meisten aber ruhig. Der Orchestergraben ist zur Massentoilette umfunktioniert worden.

Die Tschetschenen (die schon in der ersten Nacht Kinder und Schwangere haben gehen lassen) bieten an, alle Ausländer freizulassen – denn ihre Feinde seien die Russen. Doch Moskaus Unterhändler lehnen ab, die Gefangenen nach Nationalitäten einzuteilen. Kurzzeitig heißt es, Mowsar Barajew würde zehn Geiseln für jeden Abgeordneten des russischen Parlaments eintauschen, der ins Theater käme. Bald verkünden mehrere Volksvertreter vor Kameras ihre Bereitschaft dazu.

Die Terroristen indes fordern als Geisel Achmat Kadyrow, einen früheren Kampfgefährten, der zu den Russen übergelaufen ist, und bieten 50 Zivilisten für ihn. Kadyrow aber stellt sich nicht zur Verfügung.

Putin will tödliches Nervengas einsetzen

So vergehen zwei Tage. Immer wieder geben die Geiselnehmer ein paar Gefangene frei. Damit wollen sie wohl einen Sturm des Gebäudes verzögern, hoffen vielleicht, der Kreml werde zumindest auf einen Teil ihrer Forderungen eingehen. Putins Entscheidung aber steht fest. Er will Spezialeinheiten angreifen lassen. Mit einem Nervengas, das zur Ohnmacht führt und nach einiger Zeit Atemstillstand verursachen kann.

Es wird sehr wahrscheinlich Tote geben, das nimmt Putin in Kauf. Doch er will Stärke demonstrieren. Sie ist sein Markenzeichen, sein Programm. „Russland wird entweder ein starker Staat sein, oder es wird nicht sein – jedenfalls nicht so, wie es bislang gewesen ist“, hat er vor seiner Wahl zum Präsidenten gesagt. Denn er hat selbst erlebt, was geschieht, wenn Moskau Schwäche zeigt.

Putin als russischer Spion in der DDR

Im Epochenjahr 1989 ist Wladimir Wladimirowitsch Putin als KGB-Mann in Dresden stationiert – und sehr ernüchtert. Sein Leben lang hat er davon geträumt, Spion zu sein. Seit er ein Junge war, wollte er beim Geheimdienst arbeiten, Heldentaten für sein Land vollbringen. Damals prügelte er sich oft in den Hinterhöfen seiner Heimatstadt Leningrad, auch in der Schule hatte er als hyperaktives Kind immer wieder Ärger, gehorchte einfach nicht. Erst durch Box- und Judotraining konnte er seine Energie kanalisieren, lernte Disziplin und verinnerlichte eine Lehre fürs Leben: „Schwache werden geschlagen.“

Mit 16 meldete er sich beim KGB, um sich zu bewerben, wo man ihm riet, erst zu studieren, am besten Jura. An der Uni lief es dann nach Plan, der Geheimdienst warb ihn tatsächlich an, bildete ihn später für den Einsatz in der DDR aus. Putin erhielt Unterricht in Deutsch, Landeskunde und Etikette. 1985 ging er mit seiner Frau Ljudmila, einer früheren Stewardess, nach Dresden.

Putin nur in zweiter Reihe

Doch jetzt, vier Jahre später, sieht er sich in einer Sackgasse. Seine Aufgabe, DDR-Bürger als Agenten anzuwerben, die dann im westlichen Ausland eingesetzt werden, erfüllt er zwar nach wie vor: Offenbar hat er ein besonderes Talent dafür, das Vertrauen anderer zu gewinnen. „Er konnte auf sie eingehen, fast mit ihnen verschmelzen“, wird ein Kollege von der Staatssicherheit später sagen. „Ein Zuhörer, der das Ziel hat, den anderen dazu zu bringen, sich zu offenbaren, selbst aber möglichst wenig von sich zu zeigen.“ Der ideale Spion, eigentlich.

Aber die KGB-Elite sitzt in Berlin, in Dresden arbeitet die zweite und dritte Reihe. Putin ist weitab von der Macht, fällt nicht auf, hat seinen Antrieb verloren. Der 37-Jährige trinkt und feiert viel. Hat Affären und schlägt seine Frau (wie die einer vermeintlichen Freundin klagt, die für den westdeutschen Geheimdienst BND arbeitet).

Schwere Zeiten brechen an für Putin und seine Familie

Durch seine Arbeit erkennt Putin, wie weit der Westen dem Osten enteilt ist. Die Führer in Moskau aber scheinen die Lage zu verkennen. Als das DDR-Regime Ende 1989 kollabiert, duckt Moskau sich einfach weg.

Am Abend des 6. Dezember stürmen Dresdner Bürger die dortige Stasi-Zentrale, etwa 50 von ihnen laufen zu einer Villa, in der der KGB residiert. Putin steht mit einigen russischen Soldaten am Tor. Mit nur einem Satz, so erinnert sich ein Bürgerrechtler, bringt er die Menge dazu, sich zurückzuziehen: „Ich bin Soldat bis zum Tod.“

Bis tief in die Nacht bleibt er auf seinem Posten – und wartet vergebens auf Befehle aus Moskau. Die Zentrale schweigt: für Putin eine Fahnenflucht des Staates, ein Erlebnis, das ihn erschüttert. Damals, so wird er später sagen, sei ihm klar geworden, dass „die Sowjetunion erkrankt ist an einer tödlichen Krankheit mit dem Namen Lähmung. Eine Lähmung der Macht“.

Im Februar 1990 geht er zurück nach Leningrad. Dort bezieht er mit seiner Frau, zwei Töchtern und seinen Eltern eine heruntergekommene Wohnung am Stadtrand. Der KGB lässt ihn nun an der Universität als Assistent Prorektors für internationale Fragen arbeiten.

Es ist eine schwierige Zeit. Russlands Wirtschaft taumelt, in den Supermärkten bleiben die Regale oft leer. Putin muss seine Familie versorgen, verdient aber nicht viel; seine Eltern, ehemalige Fabrikarbeiter, sind 80 Jahre alt, und die Mutter leidet an Krebs. Als sein früherer Jura-Professor Anatolij Sobtschak im Juni 1991 Oberbürgermeister wird, nimmt Putin das Angebot an, in dessen Stab mitzuarbeiten und kündigt beim KGB.

Kaum in der Politik, erlebt er das Ende der Sowjetunion. Es schmerzt ihn – nicht als Scheitern einer Idee, sondern als Niederlage Russlands. Später, als Präsident, wird er den Zusammenbruch der UdSSR die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ nennen.

Putins Aufstieg

Putin entwickelt neuen Ehrgeiz. Mit starken Worten macht er klar, was er unter funktionierendem Staat versteht. Für jeden getöteten Polizisten, sagt er, sollen zehn Verbrecher sterben, „natürlich im Rahmen der Gesetze“.

Den Mangel in der Stadt bekämpft Putin recht effizient, organisiert etwa die Verteilung Tausender Hilfspakete aus Deutschland. Sobtschak ist zufrieden, macht ihn zum Stellvertreter.

Aber Putin zeigt auch Schwächen. Die öffentliche Rede ist nicht seine Sache. Nach einer Sitzung des Stadtparlaments, so bemerkt Oberbürgermeister Sobtschak, ist er „ganz blau im Gesicht und wie um mehrere Kilo abgemagert“. Putin ist, so scheint es, ein Mann für den Hintergrund.

1996 organisiert er die Kampagne für Sobtschaks Wiederwahl mit. Sein Mentor, verstrickt in Korruptionsvorwürfe, ver liert – doch für Putin ist die Niederlage kein Karriereknick, sondern vielmehr der Beginn seines Aufstiegs bis ins Zentrum der Macht: Ein früherer Weggefährte, der als Ökonom in der Kreml-Administration arbeitet, setzt sich für ihn bei Anatolij Tschubajs ein, dem Chef der Präsidialverwaltung.

Korruption und Intrigen regieren Russland

Und tatsächlich: Putin erhält einen Posten in Moskau. Der Kreml verfügt noch aus Sowjetzeiten über ein undurchsichtiges Geflecht von Hunderten Firmen sowie Tausenden Gebäuden und Grundstücken im Gesamtwert von 650 Milliarden Dollar, und Putin ist fortan mitverantwortlich für die Immobilien im Ausland, kümmert sich um deren Instandhaltung und Verkauf und entscheidet wohl auch, wer sie in welchem Umfang nutzen darf.

Er sieht schon bald, was in Moskau vor sich geht, wie weit verbreitet die Korruption ist und wie häufig Intrigen gesponnen werden, bei denen Konkurrenten mit kompromittierendem Material aus dunklen Quellen ausgeschaltet werden. Er beobachtet auch, dass nicht politische Kompetenz über den Zugang zu dem durch Krankheiten geschwächten Boris Jelzin entscheidet – sondern Geld, wie es der milliardenschwere Boris Beresowskij hat, der wichtigste Einflüsterer des Präsidenten.

Putin wird nicht entgangen sein, wie Beresowskij im Sommer 1996 Boris Jelzin mithilfe seines Medienimperiums zur Wiederwahl verholfen hat. Nun erlebt er aus der Nähe, dass in Russland politische Macht erkauft wird. Beresowskij erklärt unverblümt, er habe sich gemeinsam mit anderen Milliardären dank der Finanzierung von Jelzins Wahlkampf das Recht erworben, Regierungsposten zu besetzen. Politik, so erklärt er, sei in Russland immer noch „das lukrativste Feld für Geschäfte“.

Putin ist zuverlässig und effizient, und so wird er im März 1997 von Jelzin befördert: zu einem von mehreren stellvertretenden Leitern der Präsidialverwaltung. Er hat nun unter anderem die landesweite Umsetzung von neuen Gesetzen und Präsidentendekreten zu überprüfen – und merkt schnell, wie machtlos Moskau in der Provinz ist.

Der leise Diener

Russland ist föderal organisiert, und in den mehr als 80 Verwaltungsbezirken und teilautonomen Republiken haben oft Mafiaclans oder undurchsichtige Geschäftsleute das Sagen. Sie erkaufen sich Mehrheiten in den lokalen Parlamenten oder lassen sich gleich selbst in Schlüsselpositionen wählen. Manche Regionen erlassen auf eigene Faust Steuern oder sogar Zölle, ohne dass das Geld je beim Fiskus ankommt.

Russland wird zu dieser Zeit von einigen wenigen Männern ausgebeutet, die in den Jahren der postsowjetischen Privatisierung zu Geld und Einfluss gekommen sind. Spätestens jetzt verfestigt sich Putins Überzeugung, dass sein Vaterland eine starke, durchsetzungsfähige Regierung braucht, um überleben zu können. Aber er mahnt nicht, prangert nicht an. Sondern dient leise weiter. In dem von starken Egos dominierten Kreml ist Putin zurückhaltend, unauffällig. Er redet nicht viel, liefert pünktlich. Ein nützlicher Apparatschik, offenbar ohne große Ambitionen. Einer, den man gut gebrauchen kann, der einem aber nicht gefährlich wird.

Skandal um den russischen Generalstaatsanwalt

Im Mai 1998 rückt Putin weiter nach oben, wird erster stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, kurz darauf Chef des Geheimdienstes FSB, des Nachfolgers des KGB. „Ich kehre dorthin zurück, wo ich hingehöre“, sagt er bei seiner Vorstellung.

Als der russische Generalstaatsanwalt Jurij Skuratow 1998 Ermittlungen gegen Jelzins Umfeld (zu dem auch Beresowskij gehört) wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Korruption aufnimmt, taucht bald ein Film auf, in dem ein Skuratow ähnelnder Mann beim Sex mit zwei Prostituierten zu sehen ist. Der Generalstaatsanwalt bestreitet, der Gefilmte zu sein. Doch die Abendnachrichten zeigen die Aufnahme – und Geheimdienstchef Putin bestätigt in einem Interview dessen Authentizität.

Ein Nachfolger für Jelzin ist gefragt

Skuratow ist erledigt, die Ermittlungen werden offiziell eingestellt. Und bei Jelzin und Beresowskij wächst die Überzeugung, in Putin den richtigen Mann für die ganz große Aufgabe gefunden zu haben.

Denn dass der herz-­ und alkoholkranke Jelzin nicht mehr lange durchhalten wird, ist klar. Und so suchen er und seine Vertrauten einen Nachfolger, der als Präsident die Geschäfte in ihrem Sinn weiterführt. Einen Strohmann, der ihre Interessen durchsetzt und sich ansonsten zurückhält.

Jelzin hat bereits drei Kandidaten ausprobiert, sie zu Ministerpräsidenten ernannt und dann verfolgt, wie sie sich ma chen. Doch sie alle erwiesen sich letztlich als loyale Staatsdiener, die sich nicht entschieden genug vor Jelzin und sein korruptes Umfeld stellten.

Nun erhält Putin seine Chance. Am 9. August 1999 wird er neuer Ministerpräsident. Den Russen ist es gleichgültig. Eine Moskauer Zeitung bescheinigt dem Neuen die „Ausstrahlung eines getrockneten Haifischs“.

Will Putin länger an der Macht bleiben, muss er Sympathien im Volk gewinnen, denn auch in Russland entscheiden letztlich Wahlen über politische Karrieren. Er braucht ein Thema, um sich zu profilieren.

„Zur Not legen wir sie auf dem Klo um“

Noch im Monat seiner Amtseinführung fallen mehrere Hundert tschetschenische Islamisten in das benachbarte Dagestan ein (das wie Tschetschenien als Teilrepublik zu Russland gehört). Sie kündigen an, den gesamten nördlichen Kaukasus erobern und ein Kalifat errichten zu wollen. Moskau schickt Einheiten, um sie zurückzuschlagen.

Im September erschüttern mehrere Bombenanschläge Moskau, über 200 Menschen sterben, darunter viele Kinder. Ohne klare Beweise zu präsentieren, macht Putin die Separatisten für den Terror verantwortlich. „Darauf kann man nur mit Gewalt antworten“, verkündet er im Fernsehen. „Wir werden sie jagen und töten, zur Not legen wir sie auf dem Klo um.“

Spekulationen um inszenierten Tschetschenien­-Krieg

Am 1. Oktober 1999 schickt er Russlands Armee in den Kaukasus: Der zweite Tschetschenien­Krieg beginnt (schon zwischen 1994 und 1996 haben Moskaus Truppen dort gekämpft). Präsident Jelzin, der eigentliche militärische Oberbefehlshaber, lässt seinem Kronprinzen freie Hand.

Er habe konsequent sein müssen, wird Putin später den Feldzug rechtfertigen, Russland wäre sonst „in eine unendliche Folge von Lokalkriegen gezogen worden, und wir hätten ein zweites Jugoslawien bekommen“. Können sich bei seinem Amtsantritt weniger als zwei Prozent der Russen Putin als Präsidenten vorstellen, sind es nach den markigen Fernsehauftritten und dem Kriegsbeginn bald schon 14 Prozent. (Der Zusammenhang ist so deutlich, dass manche Beobachter sogar vermuten, der FSB selbst habe die Bomben in Moskau gelegt; Beweise dafür aber fehlen.)

Wladimir Putin und Boris Jelzin
Als Putin 1999 Jelzins Nachfolger wird, ist er für viele Russen noch ein Unbekannter
© UIG via Getty Images

Jelzin übergibt sein Präsidentenamt an Putin

Jelzin und seine Vertrauten sehen den Moment gekommen, Putin als neuen Präsidenten durchzusetzen. Sie gründen eine Partei namens „Einheit“, die Putins Werkzeug im Parlament werden soll, um Gesetze durchzubringen. Unterstützt von Beresowskijs Medienimperium, holt sie bei den Wahlen im Dezember 1999 sofort 23 Prozent (2001 wird sie in der Partei „Einiges Russland“ aufgehen).

Am Silvesterabend 1999 tritt Boris Jelzin als russischer Präsident zurück und übergibt sein Amt, so wie es die Verfassung in diesem Fall vorsieht, kommissarisch an Wladimir Putin. Bis zu den nun angesetzten Präsidentschaftswahlen im März 2000 bekommt der Neue damit ein paar Monate Zeit, um als Regierungschef weitere Pluspunkte beim Volk zu sammeln.

Kampf um die Gunst der 147 Millionen Russen

Als erste Amtshandlung unterzeichnet Putin einen Erlass, der Jelzin Immunität vor Strafverfolgung garantiert (sowie ihn und seine Familie mit Residenzen, Renten und Personal auf Staatskosten ausstattet).

Der Ex­-Geheimagent ist an der Spitze angekommen. Nun muss er nur noch die Mehrheit der 147 Millionen Russen dazu bringen, ihn zum Präsidenten zu wählen. Er lässt sich als harter Mann inszenieren, fliegt in Kampfjets mit, übernachtet auf einem Atom-­U-­Boot, verteilt in Tschetschenien Dolche an seine Soldaten.

Die haben die Teilrepublik mittlerweile fast vollständig eingenommen, können sie aber nicht befrieden. Der Konflikt schwelt weiter als Guerillakrieg. Kritische Journalisten sprechen von Staatsterror, aber die Mehrheit der Russen unterstützt den Einsatz. Das liegt auch an der positiven Berichterstattung in den von den Oligarchen kontrollierten TV-Sendern.

Mögliche Konkurrenten Putins im Kampf um die Präsidentschaft – etwa Moskaus Oberbürgermeister Jurij Luschkow oder der frühere Ministerpräsident Jewgenij Primakow – werden von gekauften Journalisten mit zum Teil absurden Vorwürfen geschädigt. So verkündet ein von Beresowskij persönlich instruierter Nachrichtensprecher, Luschkow habe einen Mord in Auftrag gegeben, und Primakow sei mitverantwortlich für ein (gescheitertes) Attentat auf den georgischen Präsidenten. Entnervt treten beide erst gar nicht zur Wahl an.

Und so wird Wladimir Putin am 26. März 2000 mit 53 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. 53 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.

Russland: heruntergewirtschaftet und verarmt

Seine Hintermänner wähnen sich am Ziel. In der Analyse eines russischen Finanzunternehmens heißt es: „Putin hat die letzten zehn Jahre vorrangig die Befehle anderer umgesetzt. Er hat keine Erfahrung mit politischen Entscheidungen und ist überwältigt von Jelzins Großzügigkeit. Er besitzt eine subalterne Mentalität und fühlt sich von Beresowskijs Umfeld abhängig.“ Eine falsche Einschätzung, wie sich bald zeigen wird.

Putin übernimmt ein heruntergewirtschaftetes Land, dessen Sozialprodukt in den acht Jahren zuvor um 50 Prozent gesunken ist, das kaum noch Renten und Beamtengehälter auszahlen kann, das dem Ausland rund 160 Milliarden Dollar schuldet und in dem jeder Vierte unter der Armutsgrenze lebt. Radikale Veränderungen sind nötig.

Neue Regeln für Oligarchen

Putin macht sich sofort ans Werk. Und als Erstes zeigt er, dass neue Regeln gelten – auch für Milliardäre. Vier Tage nach seiner Amtseinführung stürmen 50 Polizisten mit Maschinenpistolen die Zentrale eines Medienkonzerns, der zum Imperium des Unternehmers Wladimir Gussinskij gehört. Der Magnat kommt wegen angeblichen Betrugs in Untersuchungshaft.

Im Juli lädt Putin gut zwei Dutzend Oligarchen in den Kreml und erklärt ihnen, die Zeit der Hinterzimmerdeals sei vorbei. Und: Ab sofort würden Steuern gezahlt.

Boris Beresowskij (der selbst nicht an dem Treffen teilnimmt) ist fassungslos. Er habe Putin doch überhaupt erst groß gemacht, sagt er zu einem Parlamentarier.

Der Präsident aber schafft sich eine eigene Machtbasis. Ihm hilft, dass Hunderttausende einstige Geheimdienstler, Polizisten und Offiziere, die ihren Job verloren haben, nun in der Verwaltung oder Lokalpolitik arbeiten – und über den Verfall ihres Staates ähnlich denken wie er.

Parlamentsabgeordnete werden gekauft

Zunehmend umgibt Putin sich mit ehemaligen Spionen und Militärs. Im Kreml ersetzt er Vertreter der Jelzin-Clique durch einen kleinen Kreis engster Vertrauter, die er von früher kennt. Im Finanzministerium lässt er eine Abteilung für Großkonzerne aufbauen und schickt erstmals überhaupt Steuerprüfer in deren Zentralen.

Um Gesetze zu ändern, etwa die milden Strafen gegen Steuerhinterziehung zu verschärfen, stützt er sich im Parlament auf seine Partei sowie wechselnde Mehrheiten. Wenn nötig, werden Abgeordnete gekauft.

Russische Wirtschaft erholt sich unter Putin

Er stutzt die Rechte der Regionalparlamente, verlagert Kompetenzen in den Kreml (2004 wird er sogar mit Zustimmung des Parlaments ein Gesetz erlassen, dass ihn berechtigt, die Gouverneure der Provinzen fortan persönlich zu ernennen). Er schwächt die Opposition, lässt die Staatsanwaltschaft gegen Umweltaktivisten wegen angeblichen Geheimnisverrats ermitteln. Er drängt widerspenstige Oligarchen ins Ausland und verstaatlicht Teile ihrer Konzerne wegen echter oder vermeintlicher Steuerschulden. Auch Boris Beresowskij muss Sparten seines Imperiums abtreten, setzt sich nach London ab.

Die meisten Russen sehen nun, dass ihr Staat einigermaßen funktioniert, sich die Wirtschaft endlich erholt. Die konsequente Steuereintreibung erlaubt es dem Kreml, die Einkommensteuer zu senken, um so ausländische Firmen und Investoren anzulocken. Zudem sorgen steigende Gas- und Ölpreise für enorme Einnahmen des Großexporteurs Russland. Die Reallöhne der Russen nehmen allein im Jahr 2000 um rund 23 Prozent zu.

Russlands neue Stabilität

Dass die Korruption unter Wladimir Putin keineswegs endet, wird von der zunehmend gleichgeschalteten Presse nicht erwähnt. Und was ist mit den bald aufkommenden Gerüchten, dass der Präsident Milliarden im Ausland bunkert? Beweise fehlen – und den meisten Russen ist es wohl egal, auch wenn vermutlich die wenigsten an die offizielle Version glauben, nach der Putin sich mit dem Monatsgehalt von umgerechnet 2000 Euro begnügt. Im Dezember 2001 sind fast drei Viertel der Menschen zufrieden mit seiner Amtsführung.

Auch die regierenden Politiker in Washington, London, Paris und Berlin sehen mit Wohlwollen auf ihren neuen Kollegen. Wichtiger als Putins rigide Innenpolitik ist ihnen Russlands neue Stabilität. Moskau hat begonnen, Auslandsschulden zu tilgen, die Rohstoffexporte steigen, eine neue Gaspipeline nach Europa ist in Planung.

Zudem zeigt sich Wladimir Putin offen zur Zusammenarbeit: Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 öffnet er den russischen Luftraum für Vergeltungsschläge der US­-Air­Force in Afghanistan und stimmt dem Bau von US­Militärbasen in den früheren Sowjetrepubliken Usbekistan und Kirgisistan zu.

In Europa buhlt Putin vor allem um Deutschlands Gunst. Am 25. September 2001 steht er am Rednerpult des Bundestags. Es ist das erste Mal, dass ein russisches Staatsoberhaupt vor dem deutschen Parlament spricht. Putin beginnt auf Russisch, wechselt aber bald ins Deutsche, die „Sprache von Goethe, Schiller, Kant“, wie er betont. Mit sanfter Stimme preist er die „Einheit der europäischen Kultur“, zu der Deutsche und Russen so viel beigetragen hätten.

Wladimir Putin und George W. Bush
In den ersten Jahren seiner Amtszeit sucht der Präsident die Nähe zum Westen, etwa zu den USA
© DOUG MILLS/AFP/Getty Images

„Heute müssen wir“, sagt er etwas lauter, „mit Bestimmtheit und endgültig erklären: Der Kalte Krieg ist vorbei.“ Russland sei bereit für eine „echte Partnerschaft“ mit dem Westen, und eines könne er versichern: Ein „Hauptziel der russischen Innenpolitik ist die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit“.

Am Ende der Rede erheben sich die Abgeordneten zu einer stehenden Ovation.

NATO möchte sich enger mit Russland abstimmen

Zwar passen Putins Worte kaum zu seiner zunehmend repressiven Innenpolitik. Aber nicht wenige Parlamentarier sehen darin wohl eine Übergangsphase, nach deren Ende Russland demokratisiert sein werde.

Im Mai 2002 beschließen die 19 Staaten der NATO, sich fortan enger mit Moskau abzustimmen, besonders in Krisenzeiten. Russlands neue Haltung lässt selbst den brutalen Krieg vergessen, den es in Tschetschenien führt. Doch dann, am 23. Oktober 2002, tragen die Kämpfer aus dem Kaukasus den Konflikt nach Moskau: ins ausverkaufte Dubrowka­-Theater.

Geiselnahme: Situation eskaliert

Samstag, 26. Oktober. In der dritten Nacht der Geiselnahme verliert ein Mann im Theatersaal die Nerven, attackiert mit einer Flasche eine der Terroristinnen. Ein Vermummter schießt, tötet dabei eine unbeteiligte Geisel und verletzt eine weitere schwer.

Kurz darauf greifen Putins Spezialeinheiten an. Über das Lüftungssystem leiten sie das Nervengas in das Theater. Als das Gemisch in den Saal strömt, bricht Panik aus. Die Terroristen schießen auf die Lüftungsschächte, einige von ihnen setzen Gasmasken auf. Doch zünden sie keine ihrer Sprengladungen, noch feuern sie auf die Gefangenen.

Fast alle Menschen im Zuschauersaal verlieren in den folgenden Minuten das Bewusstsein. Plötzlich explodiert eine Blendgranate, Elitekämpfer stürmen das Theater, erschießen die wenigen noch widerstandsfähigen Tschetschenen, töten die bereits ohnmächtigen per Kopfschuss. Dann beginnt das Drama nach dem Drama. Die Ärzte und Sanitäter vor dem Theater sind zwar auf Brand­ und Schusswunden vorbereitet, nicht aber auf Vergiftungen. Niemand hat sie über den geplanten Gaseinsatz informiert. Und niemand sagt ihnen jetzt, um welches

Narkotikum es sich handelt. Die Helfer haben nicht die richtigen Medikamente zur Hand, um die Erstickenden zu retten. In den Bussen, die für den Transport ins Krankenhaus bereitstehen, sitzen Sterbende mit offenen Mündern und nach hinten gekipptem Kopf. Viele ersticken an ihrem eigenen Erbrochenen. Aus dem Theater tragen Polizisten und Soldaten Leiche um Leiche und reihen die Körper vor dem Gebäude auf. 125 Geiseln überleben ihre Befreiung nicht.

Vladimir Putin
Putin heute: In Sankt Petersburg stößt der Kremlchef am 28. Juli 2019 mit ranghohen Militärs auf den Tag der Marine an
© Pool Sputnik Kremlin/AP Photo/picture alliance

Neues Pressegesetz verbietet Kritik

Doch es regt sich in Russland kaum Widerspruch. Zeitungen und TV­-Sender erhalten direkt nach dem Sturmangriff Anrufe aus dem Presseministerium mit der Aufforderung, nicht über den Gaseinsatz zu berichten.

Und das Parlament beschließt binnen Stunden ein neues Pressegesetz, das Kritik an „Anti­-Terror-­Einsätzen“ verbietet.

„Wir haben bewiesen, dass sich Russland nicht in die Knie zwingen lässt“, sagt Wladimir Putin in einer Fernsehansprache.

Er ist jetzt so mächtig wie nie zuvor.

GEO EPOCHE Nr. 95 - 1989

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