Leitlinie Protein
Evidenzbasierte Leitlinie zum Einfluss von Protein auf gesundheitsbezogene Endpunkte
Die evidenzbasierte Protein-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) beschäftigt sich mit der Frage, welche Beziehung zwischen der Quantität und der Art von Protein in der Ernährung und den Endpunkten Blutdruck, kardiovaskulären Erkrankungen, Knochengesundheit, Körpergewichtsstabilität, Krebs, Muskelgesundheit, Nierengesundheit sowie Typ-2-Diabetes in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung besteht.
Methodik
Für die Erstellung der Protein-Leitlinie erfolgen systematische Literaturrecherchen nach systematischen Übersichtsarbeiten mit und ohne Metaanalysen von prospektiven Studien (u. a. Kohortenstudien und randomisiert kontrollierte Interventionsstudien) nach vorab festgelegten Ein- und Ausschlusskriterien in den drei Datenbanken PubMed, Embase und Cochrane Database of Systematic Reviews.
Die methodische Qualität der Übersichtsarbeiten bewertet die Leitlinienkommission der DGE mittels „A Measurement Tool to Assess Systematic Reviews 2“ (AMSTAR 2), die Evidenz der endpunktspezifischen Ergebnisse mittels NutriGrade.
Zur Bewertung der Evidenz werden sogenannte Härtegrade vergeben, diese verdeutlichen wie gut und konsistent die zugrundeliegende Datenlage ist.
Eine weitere Basis der Methodik, die mit ihrer Systematik dem aktuellen Stand wissenschaftlichen Arbeitens entspricht, sind Arbeitsprinzipien wie das Vier-Augen-Prinzip, das für alle Schritte angewendet wird.
Zu den genannten Endpunkten wird die DGE sukzessive einzelne Umbrella Reviews veröffentlichen, die abschließend in einer Gesamtempfehlung zusammengefasst werden. Vor der finalen Veröffentlichung der Gesamtempfehlung wird es einen Konsultationsprozess geben, bei dem diese auf fachlicher Ebene kommentiert werden kann.
Im Rahmen des ersten Beitrags von Kroke et al. „Dietary protein intake and health-related outcomes: a methodological protocol of the evidence to decision framework underlying the evidence-based guideline of the German Nutrition Society" wurde das methodische Vorgehen beschrieben.
Knochengesundheit
In diesem Umbrella Review von Zittermann et al. wurde der Zusammenhang zwischen einer höheren Proteinzufuhr und dem Risiko für beispielsweise Knochenbrüche untersucht. Protein ist wichtig für die Gesundheit des Muskel-Skelett-Systems. Der aktuelle Referenzwert für die Proteinzufuhr liegt bei 0,8 g/kg Körpergewicht/Tag für Erwachsene zwischen 19 und 65 Jahren und bei 1,0 g/kg Körpergewicht/Tag für Personen über 65 Jahren.
Insgesamt lag die Proteinzufuhr zwischen 0,21 g/kg Körpergewicht/Tag bis 1,69 g/kg Körpergewicht/Tag. Aufgrund der sehr uneinheitlichen Proteinzufuhr in den 11 in das Umbrella Review eingeschlossenen systematischen Übersichtsarbeiten sowie der geringen endpunktspezifischen Evidenz lässt sich keine zuverlässige Schlussfolgerung für die erwachsene Bevölkerung ableiten. Unklar bleibt daher, ob eine Proteinzufuhr über der aktuellen Empfehlung für die Nährstoffzufuhr der DGE/ÖGE die Knochengesundheit beeinflusst. Es gibt keine Evidenz dafür, dass eine höhere Proteinzufuhr den Knochen und das generelle Frakturrisiko in der Allgemeinbevölkerung beeinflusst. Eine Ausnahme ist das Hüftfrakturrisiko bei > 65-Jährigen, das bei hoher Proteinzufuhr möglicherweise verringert ist.
Die Gefahr der Knochenbrüche durch Osteoporose steigt mit höherem Alter exponentiell an und das Risiko von Hüftfrakturen bei älteren Erwachsenen, insbesondere bei Bewohner*innen von Pflegheimen, ist hoch. Leitlinien von Konsensus-Expertengruppen, wie der European Society on Parenteral und Enteral Nutrition (ESPEN), empfehlen bereits eine höhere Proteinzufuhr für ältere Erwachsene von 1-1,5 g/kg Körpergewicht/Tag, um den altersbedingten Muskelabbau zu verzögern. Es ist möglich, dass sich das Frakturrisiko bei älteren Menschen durch eine Proteinzufuhr > 1 g/kg Körpergewicht/Tag reduziert. Daher sollten sich künftige Forschungen und Analysen auf die Auswirkungen einer höheren Proteinzufuhr auf die Knochengesundheit bei Erwachsenen ab 65 Jahren konzentrieren. Weitere qualitativ hochwertige Forschungsarbeiten über die Auswirkungen der Menge und Art des Proteins auf die Knochengesundheit in der gesamten erwachsenen Bevölkerung sind erforderlich.
Nierengesundheit
In diesem Umbrella Review von Remer et al. wurde untersucht, wie Veränderungen der Proteinzufuhr die Nierenfunktion beeinflussen. Der aktuelle Referenzwert für die Proteinzufuhr liegt für Erwachsene zwischen 19 und 65 Jahren bei 0,8 g/kg Körpergewicht/Tag und erhöht sich ab 65 Jahren auf 1,0 g/kg Körpergewicht/Tag. Seit Jahrzehnten wird die Rolle von Proteinen im Zusammenhang mit Nierenerkrankungen erforscht. Bisher ist jedoch nicht geklärt, ob eine langfristig höhere Proteinzufuhr bei gesunden Erwachsenen die Nierenfunktion beeinträchtigt. In diesem Umbrella Review wurde jetzt die verfügbare Evidenz geprüft, inwieweit eine hohe Proteinzufuhr (> 0,8 g/kg Körpergewicht/Tag) Einfluss auf Nierenerkrankungen sowie nierenfunktionsbezogene Parameter hat. Die wichtigsten Parameter zur Beurteilung der Nierenfunktion sind die Albuminausscheidung im Urin (Albuminurie) und die glomeruläre Filtrationsrate (GFR).
Die Proteinzufuhr der neun in die Auswertung einbezogenen systematischen Übersichtsarbeiten lag zwischen 1,0 und 3,3 g/kg Körpergewicht/Tag. Zu den untersuchten Erkrankungen (Endpunkte) zählten chronische Nierenerkrankungen, Nierensteine und die nierenfunktionsbezogenen Parameter Albuminurie, GFR, Serumharnstoff, pH-Wert im Urin sowie Calciumausscheidung im Urin. Insgesamt ergab sich für die meisten dieser Endpunkte kein Zusammenhang mit einer höheren Proteinzufuhr. Eine hohe Proteinzufuhr ist zwar wahrscheinlich mit einer erhöhten Calciumausscheidung im Urin - einem Risikofaktor für die Bildung von Calciumsteinen – verbunden. Allerdings zeigt die Gesamtevidenz keinen Zusammenhang zwischen der Proteinzufuhr und dem Risiko für das Auftreten von Nierensteinen.
Die meisten der analysierten Primärstudien sind jedoch von eher kurzer Dauer, so dass Langzeitfolgen über Jahrzehnte derzeit nicht beurteilt werden können. Es bleibt daher vorerst unklar, ob eine langfristig hohe Proteinzufuhr Parameter für Nierenerkrankungen beeinflusst. Zukünftig werden Langzeitstudien benötigt, um herauszufinden, ob die Albuminausscheidung tatsächlich nicht ansteigt und die glomeruläre Filtrationsrate im Alter nicht sinkt, wenn die Proteinzufuhr die aktuellen Empfehlungen über einen Zeitraum von Jahrzehnten übersteigt. Erst dann ist es möglich, Aussagen über höhere Proteinzufuhrmengen als "quasi sicher" einzustufen.
Typ-2-Diabetes
In diesem Umbrella Review von Schulze et al. wurde der Zusammenhang zwischen einer höheren Proteinzufuhr und dem Risiko für Typ-2-Diabetes untersucht. Der aktuelle Referenzwert für die Proteinzufuhr liegt für Erwachsene zwischen 19 und 65 Jahren bei 0,8 g/kg Körpergewicht/Tag. Das Umbrella Review schließt insgesamt 8 systematische Übersichtsarbeiten ein. Die meisten Übersichtsarbeiten zeigten für eine höhere Zufuhr von Gesamtprotein sowie tierischem Protein eine Risikoerhöhung für Typ-2-Diabetes. Bei einer höheren Zufuhr von pflanzlichem Protein wiesen einige aktuellere Übersichtsarbeiten auf eine Verringerung des Risikos hin, die meisten Übersichtsarbeiten zeigten jedoch keinen Zusammenhang mit dem Risiko für Typ-2-Diabetes.
Die Ergebnisse der Übersichtsarbeiten aus randomisiert kontrollierten Studien, die den Zusammenhang der wichtigsten glykämischen Parameter (HbA1c, Nüchternglukose, Nüchterninsulin) und einer höheren Proteinzufuhr untersuchten, belegen hingegen keinen klaren Effekt für das Risiko für Typ-2-Diabetes. Es liegt keine eindeutige biologische Plausibilität für den Zusammenhang zwischen der Zufuhr von Proteinen und dem Risiko für Typ-2-Diabetes vor.
Die meisten Übersichtsarbeiten wiesen eine moderate bis hohe methodische Qualität und eine mäßige endpunktspezifische Evidenz auf, letztere war bei den meisten Übersichtsarbeiten zu tierischem und pflanzlichem Protein gering.
Unter Berücksichtigung der Studienqualität der Übersichtsarbeiten sowie der biologischen Plausibilität ist eine höhere Gesamtproteinzufuhr möglicherweise mit einem höheren Risiko für Typ-2-Diabetes verbunden. Eine Risikoerhöhung bei einer höheren Zufuhr von tierischem Protein und eine Risikosenkung bei einer höheren Zufuhr von pflanzlichem Protein ist nicht ausreichend belegt.
Körpergewicht
In diesem Umbrella Review von Ellinger et al. wurde der Einfluss der Proteinzufuhr auf das Körpergewicht, die Fettmasse und den Taillenumfang in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung untersucht. Der aktuelle Referenzwert für die Proteinzufuhr beträgt 0,8 g/kg Körpergewicht/Tag für Frauen und Männer ab 19 Jahren und erhöht sich ab 65 Jahren auf 1,0 g/kg Körpergewicht/Tag. Seit langem wird diskutiert, ob eine über dem Referenzwert liegende Proteinzufuhr Übergewicht und Adipositas vorbeugen und im Rahmen einer energiereduzierten Ernährung die Körpergewichtsreduktion und den Erhalt der fettfreien Masse unterstützen kann. Neben der Menge könnte auch die Art des Proteins relevant sein.
Das Umbrella Review schließt 33 systematische Übersichtsarbeiten ein, die sich stark in der Proteinzufuhr, den Proteinquellen und der Studiendauer unterscheiden. Sie basieren überwiegend auf randomisierten kontrollierten Interventionsstudien. In der Mehrzahl der eingeschlossenen Studien entsprach die über Lebensmittel und Supplementen zugeführte Proteinmenge mindestens dem Referenzwert.
Die Ergebnisse zeigen u.a., dass bei bedarfsgerechter Energiezufuhr die täglich zugeführte Proteinmenge bei Erwachsenen das Körpergewicht, die Fettmasse und den Taillenumfang wahrscheinlich nicht beeinflusst. Aufgrund der niedrigen methodischen Qualität der untersuchten Übersichtsarbeiten bleibt unklar, wie sich eine proteinreiche Ernährung im Rahmen einer Energiereduktion auf die drei Endpunkte auswirkt. Es gibt keine Anhaltspunkte, dass die Art des zugeführten Proteins die o.g. Endpunkte beeinflusst.
Weitere systematische Übersichtsarbeiten mit hoher methodischer Qualität sind zwingend erforderlich, ebenso eine ausreichende Anzahl adäquat designter kontrollierter Ernährungsinterventionsstudien.
Blutdruck
In diesem Umbrella Review von Boeing et al. wurde der Zusammenhang zwischen der Proteinzufuhr und dem Blutdruck untersucht. Das Umbrella Review schließt 16 systematische Übersichtsarbeiten ein. Davon untersuchten zehn der eingeschlossenen systematischen Übersichtsarbeiten die Gesamtproteinzufuhr, sechs tierisches Protein, sechs pflanzliches Protein und vier verglichen tierisches mit pflanzlichem Protein. Die Mehrheit der systematischen Übersichtsarbeiten beobachtete keine Assoziation oder Effekte zwischen Gesamt-, tierischem und pflanzlichem Protein und der Höhe des Blutdrucks, wobei die Unsicherheit bezüglich der Auswirkungen auf den Blutdruck insbesondere bei pflanzlichem Protein hoch war. Schlussfolgernd ergab das Umbrella Review, dass es mit „möglicher“ Evidenz keinen Zusammenhang zwischen Gesamtprotein-, tierischem Protein- und pflanzlichem Proteinverzehr und der Höhe des Blutdrucks gibt.
Interessanterweise zeigten zwei systematische Übersichtsarbeiten, die ausschließlich Milchproteine untersuchten, eine Senkung des Blutdrucks bei höherer im Vergleich zu niedrigerer Milchproteinzufuhr. Dies steht im Einklang mit einem kürzlich veröffentlichten Umbrella Review, das eine niedrigere Prävalenz von Hypertonie im Zusammenhang mit dem Verzehr von Milch und Milchprodukten sowie fermentierten Milchprodukten zeigte.
Krebs
In diesem Umbrella Review von Kühn et al. wurde der Zusammenhang zwischen einer höheren Proteinzufuhr und dem Krebsrisiko untersucht. Der aktuelle Referenzwert für die Zufuhr von Protein liegt für Erwachsene zwischen 19 und 65 Jahren bei 0,8 g/kg Körpergewicht/Tag. Zehn systematische Übersichtsarbeiten von Kohortenstudien, von denen acht Metaanalysen durchführten, wurden in das Umbrella Review eingeschlossen. Bei den untersuchten Endpunkten handelte es sich um die Inzidenz von Pankreas-, Eierstock-, Prostata-, Brust- und Kolorektalkrebs. In keiner der betrachteten systematischen Übersichtsarbeiten ließ sich eine statistisch signifikante Assoziation zwischen einer höheren Zufuhr von Gesamtprotein-, pflanzlichem Protein oder tierischem Protein und dem Krebsrisiko feststellen.
Eine Ausnahme stellt der Zusammenhang zwischen Milchprotein und Prostatakrebs dar. In zwei systematischen Übersichtsarbeiten wurde beobachtet, dass eine höhere Zufuhr von Milchproteinen mit einer Risikoerhöhung für Prostatakrebs verbunden war. In der aktuelleren der beiden systematischen Übersichtsarbeiten galt diese positive Assoziation für eine Zufuhrmenge von 30 g Milchprotein/Tag oder mehr.
Während der Verzehr von Soja als Lebensmittel in einer systematischen Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2021 mit einem geringeren Brustkrebsrisiko assoziiert war, konnte die in das Umbrella Review eingeschlossene Metaanalyse keinen Zusammenhang zwischen der Zufuhr von Sojaprotein und dem Risiko an Brustkrebs zu erkranken beobachten.
Die Ableitung der Gesamtevidenz ergab, dass es „möglicherweise“ keinen Zusammenhang zwischen der Gesamtproteinzufuhr und dem Kolorektal- sowie Bruskrebsrisiko gibt. Aufgrund der niedrigen methodischen Qualität der systematischen Übersichtsarbeiten wurde für die Schlussfolgerung, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Proteinzufuhr und dem Risiko für Prostata-, Pankreas- und Eierstockkrebs gibt, der Evidenzgrad „unzureichend“ vergeben.
Veröffentlichungen der Protein-Leitlinie
Weitere Informationen
- Protein-Referenzwert
- FAQ Protein
- Revised Reference Values for the Intake of Protein Ann Nutr Metab 2019; 74: 242–250
- Proteinzufuhr im Sport Position der Arbeitsgruppe Sporternährung der DGE Ernahrungs Umschau 2020; 67(7): 132–139