Wir gedenken der Männer und Frauen des 17. Juni, die ihr Leben für die Freiheit riskierten und es verloren haben, in tiefer Dankbarkeit und Demut

Rede von Bundesminister Cem Özdemir anlässlich der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum Jahrestag des 17. Juni 1953 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede, 

Gedenktage spiegeln wider, was uns als Gesellschaft wichtig ist. Wir geben damit eine Antwort auf die Frage, wer wir sind und wer wir sein wollen. Der 17. Juni 1953 stellt uns genau diese Frage. Wenige Tage nach dem 17. Juni brachte Bundespräsident Theodor Heuss in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags auf den Punkt, worum es damals ging: "Um die Freiheit des Menschen, um die Freiheit der Menschen."

Einen Tag zuvor, am 16. Juni 1953, marschierten etwa 2000 Arbeiterinnen und Arbeiter auf der Leipziger Straße zum Sitz der DDR-Regierung. Das Regime hatte eine Erhöhung der Arbeitsnorm beschlossen – die Arbeiter sollten für den gleichen Lohn mehr leisten. Doch bei dem Protestmarsch ging es um weit mehr als die Arbeitsnorm. Die Demonstranten riefen: "Kollegen, reiht Euch ein! Wir wollen freie Menschen sein!" – und Tausende Berlinerinnen und Berliner reihten sich ein.

Proteste fanden nicht nur in den Städten statt, sondern auch auf dem Land. Der Historiker Jens Schöne erinnert daran, dass das Aufbegehren in der DDR in den Dörfern begann. Es richtete sich dort unter anderem gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Bestrafung von Bauern, die vorgegebene Produktionsziele nicht erreicht hatten und inhaftiert wurden.

Die Streiks und Demonstrationen in der DDR weiteten sich zu einem landesweiten Volksaufstand aus. Hunderttausende in der DDR forderten Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Doch die Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie wurden durch das sowjetische Militär und die DDR-Volkspolizei brutal zerschlagen.

Am Mittag des 17. Juni rollten sowjetische Panzer durch die Straßen Berlins. Nicht nur in der geteilten Hauptstadt, auch in anderen Städten der DDR marschierten sowjetische Soldaten ein. Mindestens 55 Menschen starben. Sie wurden bei den Demonstrationen zufällig oder ganz gezielt erschossen, später hingerichtet oder starben im Gefängnis. Ihre Namen und Lebensgeschichten waren der Öffentlichkeit lange unbekannt. Heute kennen wir sie. Etwa Rudi Schwander aus Berlin. Ein Schüler. Er wurde 14 Jahre alt. Elisabeth Bröcker aus Leipzig. Sie wurde 64 Jahre alt. Alfred Diener aus Jena. Er wurde 26 Jahre alt. Nach dem 17. Juni wurden mehr als 15.000 Bürgerinnen und Bürger verhaftet, viele zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Wir gedenken der Männer und Frauen des 17. Juni, die ihr Leben für die Freiheit riskierten und es verloren haben, in tiefer Dankbarkeit und Demut. Ihr Mut hat uns ein Vermächtnis hinterlassen, das wir niemals vergessen dürfen. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk erinnert uns daran, dass die Kraft der Demokratie auch von Symbolen lebt, die Identität und Gemeinsamkeit stiften. 1989 und das Grundgesetz sind solche Symbole für uns – und auch der 17. Juni 1953! Er ist ein Datum der deutschen Geschichte, das mit dem Streben der Deutschen nach Freiheit und Demokratie verbunden ist, wie nur wenige andere.

Es sind heute auch Schülerinnen und Schüler unter uns. Sie sind die Zukunft unserer Demokratie und Erinnerung. Ich bin in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg zur Schule gegangen. Ich hatte damals keinen besonderen Bezug zum 17. Juni, den historischen Ereignissen und ihrer Bedeutung. Weder familiär, noch durch die Schule oder mein soziales Umfeld. Der Zeitzeuge Wolfgang Jähnichen hat einmal beklagt, dass der 17. Juni zu kurz gekommen sei in der deutschen Erinnerungskultur. Er sagte: "Im Osten: Da durfte man nicht drüber reden. Und im Westen: Da redete man einfach nicht drüber, weil man lieber einen Ausflug machte".

Aber wir entscheiden immer wieder neu, ob und wie wir uns erinnern. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Erinnerungskultur, zumal die Zeitzeugen immer weniger werden. Hinzu kommt die Herausforderung, dass unsere Gesellschaft vielfältiger wird. Ich fühle mich auch aufgrund meiner Herkunft verpflichtet, daran mitzuwirken, dass wir als vielfältige Gesellschaft die deutsche Geschichte zu unser aller Geschichte machen – egal, woher wir kommen. Und dazu gehört unbedingt auch der 17. Juni, der Mut der Aufständischen und ihr Kampf für Demokratie und Freiheit.

Der 17. Juni 1953 ist nicht nur ein Schlüsselereignis der deutschen Geschichte. Er ist auch ein wichtiger Tag in der Geschichte Europas. Das kann in einer Zeit, in der Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung in Europa unter Druck geraten und angegriffen werden, nicht oft genug betont werden. Nicht nur in der DDR, sondern später auch in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei haben sich Menschen für Freiheit und Demokratie erhoben. Auch dem Mut dieser Menschen ist es zu verdanken, dass 1989 Mauern und Grenzen fielen und wir heute in einem vereinten Europa leben können.

Doch Russland strebt danach, die Zeit zurückzudrehen. Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen nicht nur ihr Land und ihre Unabhängigkeit. Sie verteidigen auch die Werte und Ideale, für die die Aufständischen des 17. Juni – und später Menschen in anderen Ländern Europas – gekämpft haben. Die Ukraine verteidigt nicht nur ihre eigene Sache, sondern auch die Sache Europas. Wir stehen solidarisch an ihrer Seite!

Meine Damen, meine Herren,

vor wenigen Wochen wurde unser Grundgesetz 75 Jahre alt – und ich habe mich bewusst für dieses Grundgesetz entschieden. Ich wurde in Deutschland geboren, aber als Ausländer. Ich wurde Deutscher, weil ich es wollte. Und ich wollte es auch, weil dieses großartige Grundgesetz unsere Freiheit garantiert.

Sagen und schreiben zu dürfen, was man denkt – gerade im Angesicht des 17. Juni wird uns deutlich, wie wenig selbstverständlich diese Freiheit ist. Es ist eine Freiheit, die etwa Menschen in Russland nicht haben – um ein Land zu nennen, nach dem manche hierzulande eine gewisse politische Sehnsucht haben.

Da beklagen manche, man dürfe in unserem Land angeblich nichts mehr sagen. Da heißt es, dass wir – wieder – in einer Diktatur lebten. Man sollte wahrlich nicht erst in einer tatsächlichen Diktatur leben müssen, um zu wissen, wie es ist, wenn man für unliebsame Meinungen einen hohen Preis zahlt – die Freiheit oder gar das Leben. Es hilft, sich mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen – denn die Männer und Frauen des 17. Juni haben diesen Preis bezahlt. Niemand in Deutschland muss diesen Preis zahlen. Er muss nur aushalten, wenn ihm widersprochen wird. Und er kann auch vor Gericht ziehen und seine Rechte einklagen.

Wer die Freiheit des Widerspruchs nicht aushält und dann eine angebliche Diktatur in unserem Land beklagt, der verhöhnt damit all jene, die wirklich unter einer Diktatur gelitten haben und anderswo unter einer leiden.

Meine Damen, meine Herren,

in diesen Wochen findet in unserem Land die Fußball-Europameisterschaft statt. Tausende Europäerinnen und Europäer sind bei uns zu Gast. Und es ist doch auch ein wunderbares Zeichen, dass wir in einem wiedervereinigten Deutschland gemeinsam auf der Straße des 17. Juni feiern können.

Zugleich ist der 17. Juni eine Mahnung an uns, dass Demokratie nicht in Stein gemeißelt ist – dass wir sie verteidigen und schützen müssen. Die Unterschiede, die wir Demokraten in Deutschland und in Europa untereinander haben, sind immer kleiner als das, was uns Demokraten von den Feinden der Freiheit trennt – da darf es kein Vertun geben. Auch aus Respekt vor den Menschen, derer wir hier und heute gemeinsam gedenken.

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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