Menschen hier und überall sollen Zugang zu ausreichend, aber eben auch gesunder Nahrung haben

Rede von Bundesminister Cem Özdemir zur Eröffnung der Konferenz "Politik gegen Hunger" am 04.06.2024 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede, 

Ich begrüße Sie herzlich zu unserer diesjährigen Konferenz Politik gegen Hunger. Gemeinsam wollen wir einen 20. Jahrestag würdigen. Ich spreche von den Leitlinien der FAO zur schrittweisen Verwirklichung des Rechts auf angemessene Nahrung.

Und wie es zu Jahrestagen üblich ist, sollte man sich die Zeit nehmen, inne zu halten und nachzudenken über das, was gelungen ist und was noch besser werden kann. Ich danke Ihnen, dass Sie das mit uns gemeinsam tun wollen.

Vor wenigen Tagen haben wir in Deutschland noch einen anderen Geburtstag gefeiert: Unser Grundgesetz wurde 75 Jahre alt. Ich bin für diese Verfassung unendlich dankbar und stolz auf unser völkerrechtsfreundliches Grundgesetz, das die Würde des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt. Gleich zu Beginn betont das Grundgesetz, dass die "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte […] Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" sind. Das Grundgesetz ist Garant für Demokratie und Freiheit.

Eine Freiheit, die auch Verantwortung mit sich bringt –  Verantwortung für sich und andere, Verantwortung für das Miteinander und Füreinander. Diese Verantwortung ergibt sich nicht nur aus dem Grundgesetz, sondern auch aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dennoch werden die unveräußerlichen, unteilbaren und unverzichtbaren Menschenrechte in dieser Zeit und an vielen Orten in Frage gestellt oder sogar ignoriert. Dabei sollten die Menschenwürde und die sie schützenden Menschenrechte unser aller common ground sein – und fortwährend unser aller Ziel.

Doch leider nehmen Hunger, Fehl- und Mangelernährung seit 10 Jahren weltweit wieder zu. Die COVID-Pandemie und der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bedrohen das Recht auf angemessene Nahrung. Kriege und Konflikte, die Klimakrise und der Biodiversitätsverlust sind weltweit die Hauptgründe für Hunger und Mangelernährung.

Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen zur Beseitigung der Ursachen dieser Krisen und des daraus folgenden Leids gemeinsam dringend verstärken. Umso notwendiger ist es, dass wir in Zeiten akuter Krisen und Kriege einen verlässlichen und dauerhaften, einen ausreichenden und ungehinderten Zugang zu Nahrung für Zivilpersonen in Krisen- und Konfliktgebieten gewährleisten.

Ich denke dabei an die Situation im Gaza, aber auch an den Sudan und an die vielen Regionen unserer Erde, in den Menschen Hunger leiden, in denen das Recht auf Nahrung akut bedroht ist. Und da ich Gaza angesprochen habe, möchte ich auch in diesem Rahmen als Mitglied der Bundesregierung betonen: Israel hat das Recht, sich zu verteidigen und die Geiseln aus der Gefangenschaft der Hamas zu befreien. Zugleich gilt auch im Rahmen des Rechts auf Selbstverteidigung und beim Kampf gegen Terroristen das humanitäre Völkerrecht. Und dieses humanitäre Völkerrecht beinhaltet den Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten und deren Zugang zu Nahrung und Trinkwasser. 

Meine Damen, meine Herren,

für die Beendigung von Hunger und allen Formen der Mangel- und Fehlernährung ist international Artikel 11 des UN-Sozialpakts für die Staatengemeinschaft verbindlich. Dort heißt es, dass die die Vertragsstaaten das Recht eines jeden auf ausreichende Ernährung anerkennen. Die Festschreibung als Menschenrecht zeigt, dass die ausreichende Ernährung kein moralisches Gebot ist, das man handhaben kann, wie es einem gerade passt. Es ist keine gönnerhafte Wohltat bestimmter Staaten, den Hunger auf der Welt zu besiegen.

Es ist vielmehr eine rechtliche Verpflichtung, die alle Staaten bindet. Es ist Kernaufgabe eines jeden Staates, jedem Menschen einen sicheren Zugang zu gesunder und ausreichender Nahrung zu gewährleisten. Dieser Kernaufgabe müssen dann auch unsere weltweiten Agrar- und Ernährungssysteme gerecht werden.

Die Agrar- und Ernährungssysteme entsprechend zu gestalten und weiterzuentwickeln, ist wahrlich keine einfache Aufgabe.- Aber es ist eine Verpflichtung, die sich auch aus dem Kampf gegen den Hunger in dieser Welt zwingend ergibt.  

Die FAO hat vor 20 Jahren (2004) konkrete Empfehlungen verabschiedet, wie das Recht auf angemessene Nahrung schrittweise verwirklicht werden kann. Die "Freiwilligen Leitlinien zur Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des Menschenrechts auf angemessene Nahrung im Rahmen der nationalen Ernährungssicherheit" – so der vollständige Titel – wurden vom Welternährungsausschuss, dem CFS, erarbeitet. Sie bilden bis heute die Grundlage für die Arbeit des CFS.

Daher freut es mich sehr, dass die Vorsitzende des Welternährungsausschusses heute bei uns ist. Nochmals herzlich willkommen, Ihre Exzellenz, liebe Frau Jezile. Es ist uns eine Ehre, Sie bei uns zu haben. 

Der CFS bezieht neben Mitgliedstaaten auch Vertreter aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, dem privaten Sektor und internationale Organisationen in seine Prozesse mit ein. Diese inklusive Arbeitsweise mit verschiedenen Akteuren macht den CFS und seinen Beitrag zur globalen Ernährungssicherung so einzigartig. Neben der Entwicklung weiterer Politikempfehlungen und Freiwilliger Leitlinien ist es für uns ein wichtiges Ziel, den CFS weltweit besser sichtbar zu machen und eine bessere Implementierung seiner Arbeit zu befördern.

Genauso wollen wir die zentrale Rolle des CFS als inklusivstem UN-Gremium bei der Bekämpfung des Hungers und der Sicherung der globalen Ernährung stärken. Die Erreichung des SDG 2 – „Kein Hunger“ – ist akut gefährdet. Deshalb brauchen wir einen starken und sichtbaren CFS, um das Recht auf Nahrung zu verwirklichen.

Meine Damen, meine Herren,

ich erwähnte es eingangs: Bei dieser Konferenz möchten wir der Veränderungskraft der "Freiwilligen Leitlinien" nachgehen. Wir wollen uns gemeinsam folgende Fragen stellen:

  • Was braucht es, um die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung in den kommenden Jahren besser voranzubringen?
  • Was ist in den vergangenen Jahren bereits gelungen, welche best-practices gibt es?
  • Welchen Beitrag kann jeder einzelne von uns leisten, um das Ziel "Kein Hunger" weiter zu unterstützen?

Wenn wir uns diese Fragen stellen, sollten wir uns immer bewusstmachen: Kriege, Konflikte und Krisen sind menschengemacht. Das heißt im Umkehrschluss, es kann uns Menschen auch gelingen, diese Krisen zu bewältigen. Und die Menschheit hat schon gezeigt, dass sie dazu auch imstande ist.

An dem Panel später wird auch Tilman Brück teilnehmen, Professor an der Humboldt-Universität Berlin und Leiter des "Zero Hunger Lab". Er hat es kürzlich auf den Punkt gebracht: "Es gibt genug Essen auf der Welt, um alle zu ernähren. Die entscheidende Frage ist, wie wir unsere Gesellschaften besser organisieren." In diesem Sinne beschäftigt uns alle gemeinsam die Frage: Wie müssen wir uns organisieren, damit wir den Hunger auf der Welt besiegen?

Meine Damen, meine Herren,

ganz bewusst fragen wir auch nach den Erfolgen und bestehenden Herausforderungen in unserem eigenen Land, in Deutschland. Ich möchte dem ausdrücklich voranschicken: Natürlich kann man die Ernährungssituation hierzulande nicht mit manch anderem Ort der Welt vergleichen. Das ist uns sehr bewusst. Dennoch kommen wir unseren Berichtspflichten und auch der Verantwortung gegenüber unserer Bevölkerung nach – und schauen kritisch auf die Situation in unserem Land.

Wir selbst, ich als Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, tragen Verantwortung, Mangel- oder Fehlernährung hierzulande zu begegnen.

Es kann uns nicht egal sein, dass wir es als eines der reichsten Länder der Welt nicht schaffen, dass alle Kinder gleichermaßen die Möglichkeit haben, gesund zu essen. In einkommensschwächeren Haushalten fällt es den Menschen schwerer, sich ausgewogen zu ernähren. Obst und Gemüse sind häufig teurer und aufwändiger zuzubereiten als stärker verarbeitete Lebensmittel.

Doch alle Kinder sollten die Chance haben, gesund groß und gesund alt zu werden. Und daher ist es mir auch ein Anliegen, den Blick auf die Ernährungsarmut und ihre Folgen zu richten, die es auch bei uns gibt. Aus diesem Grund hat mein Ministerium eine Ernährungsstrategie vorgelegt, die gutes Essen für alle Menschen in diesem Land leichter machen soll.

"Gut", das heißt: Es soll gut für die Menschen, die Gesundheit und für die Erde sein. Denn auch das ist Teil der Wahrheit: Neben negativen Effekten auf die Gesundheit ist unser Ernährungssystem für rund ein Fünftel der Treibhausgasemissionen in Deutschland verantwortlich. Unsere Verantwortung endet damit quasi nicht am Tellerrand, sondern geht weit darüber hinaus – und betrifft auch andere Regionen unserer gemeinsamen Welt.

Wenn ich vorhin von Verantwortung sprach, so gehört für mich dazu, dass wir alle dazu beitragen, die Agrar- und Ernährungssysteme weiterzuentwickeln.

Menschen hier und überall sollen Zugang zu ausreichend, aber eben auch gesunder Nahrung haben. Und es ist auch kein Naturgesetz, dass wir hierzulande in 10, 20 oder 50 Jahren noch reichhaltige Ernten einfahren. In diesem Sinne bedeutet die Weiterentwicklung der Agrar- und Ernährungssysteme auch immer, Boden, Wasser, Luft, Klima und Artenvielfalt weltweit zu schützen – und auch das in Verantwortung unserer Lebensgrundlagen weltweit.

Meine Damen, meine Herren,

das Recht auf Nahrung ist der Dreh- und Angelpunkt unserer internationalen Zusammenarbeit im Agrar- und Ernährungsbereich – und der Schlüssel zur Bekämpfung des Hungers weltweit, davon sind wir überzeugt. Umso mehr unterstütze ich Brasilien als G20-Vorsitz, wenn wir das Recht auf Nahrung auch bei den G20 gemeinsam voranbringen, liebe Valéria Burity

Es braucht die Stimmen und Erfahrungen aller, um unsere Agrar- und Ernährungssysteme weiterzuentwickeln. Denn es gibt kein one-size-fits-it-all-Modell, um Hunger und Fehlernährung zu beenden, sondern viele verschiedene Lösungen und Ansätze. Es kommt darauf an, dass wir die vielfältigen Herausforderungen zusammen angehen und den Weg als internationale Partner gemeinsam gehen – auch das wird in den Leitlinien zum Recht auf Nahrung hervorgehoben. Dazu braucht es die starke, inklusive Institution des CFS, dem wir die Ergebnisse der diesjährigen Politik gegen Hunger-Konferenz für dessen weitere Arbeit mit auf den Weg geben werden.

In diesem Sinne: Schön, dass Sie alle hier sind, ich freue mich auf die kommenden zwei Tage und spannende Diskussionen. Teilen Sie Ihre Erfahrungen, kreativen Ideen und Überlegungen mit uns, wie wir gemeinsam das Recht auf Nahrung jetzt und in den kommenden Jahren weiter stärken können. Es ist die Basis für ein menschenwürdiges Miteinander in der Welt.

Vielen Dank.

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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