Es ist unbestritten, dass sich die Arbeits- und Freizeitbedingungen im Zuge des Übergangs von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft stark verändert haben. Diese Veränderungen umfassen eine zunehmende Bedeutung von kognitiven, emotionalen und sozialen Anforderungen in der Arbeitswelt sowie eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, was zu Stress und psychischen Belastungen führt. Metaanalysen (Gilbert et al., 2020) und Befragungen in Bezug auf Belastungsfaktoren kommen seit Jahren zu ähnlichen Ergebnissen, die um den Anstieg psychischer Belastungen kreisen (BAuA, 2020; TK, 2024).
Belastungsfaktoren
Zu den Belastungsfaktoren gehören beispielsweise: hoher Zeit- und Leistungsdruck, Überforderung durch Arbeitsmenge und Arbeitsintensität, hohe Verantwortung (in Kombination mit geringem Handlungsspielraum), Emotionsarbeit, häufige Umstrukturierungsprozesse, geringe Anerkennung und Wertschätzung, Ärger und Konflikte mit Vorgesetzen sowie Kolleginnen und Kollegen, dauernde Störungen und Unterbrechungen, einseitige Belastungen durch zum Beispiel lange Bildschirmarbeitszeiten. Auch in der Landwirtschaft nimmt darüber hinaus die Komplexität von Fragestellungen zu.
Die zentralen Ressourcen im Umgang mit Belastungen im Arbeitsalltag sind "Führung sowie Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen" (BAuA, 2020). Führungskräften ist ihr Einfluss als Ressource zur Abfederung psychischer Belastungen oft nicht bewusst, sodass sie ihr Unterstützungspotenzial für ihre Mitarbeitenden noch zu wenig nutzen. Zu inneren Belastungsfaktoren (Stressoren), die Führungskräfte und Mitarbeitende betreffen, gehören die im Laufe der Lebens- und Berufsgeschichte übernommenen Einstellungen und Glaubenssätze, die zum Beispiel Erholung verhindern oder erschweren. Beispielhaft seien hier die sogenannten Antreiber genannt, wie sie der US-amerikanische Psychologe Taibi Kahler im Persönlichkeitskonzept der Transaktionsanalyse Eric Bernes 1977 formuliert hat: "Sei perfekt!", "Sei gefällig!", "Streng dich an!", "Sei stark!" und "Beeil dich!" (Stewart & Joines, 1994) "Wir tragen durch Normen und Werte folglich einen Teil dazu bei, uns immer weniger angemessen zu regenerieren", so Dr. Kai Seiler, Leiter des Landesinstituts für Arbeitsschutz und Arbeitsgestaltung in NRW (Seiler, 2011). Viele Menschen glauben zum Beispiel aus Loyalität zum Betrieb und seinem Fortbestand, dass sie sich nur noch mehr oder gezielter anstrengen müssten, um die anstehenden sozioökonomischen Probleme zu lösen. Mehr derselben Anstrengung führt jedoch häufig nicht weiter. Um kreative Problemlösungen zu entwickeln, braucht das menschliche Gehirn einen gleichzeitig aktivierten und entspannten Zustand.
Gezielte Strategien
Schon während der Arbeit gilt es, sich von Belastungen und Beanspruchungen zu erholen, da es ansonsten zu negativen Folgen insbesondere für die Gesundheit in Form von Burn-on (Zustand im Dauerstress) oder Burn-out kommen kann. Erholungskompetenz ist die Fähigkeit, sich effektiv von Belastungen erholen zu können – und das schon während des Tages. Henning Allmer von der Sporthochschule Köln erläuterte 1996, dass eine Leistungssteigerung im Hochleistungssport nur erreicht werden kann, wenn neben Belastungsreizen auch die Fähigkeit zur gezielten Erholung, also Regeneration gefördert wird. Seinen Ansatz der Erholungskompetenz übertrug er direkt auf den Schul- und Arbeitsbereich. In vielen Arbeitszusammenhängen setzt Erholung heute nicht automatisch ein, wenn Belastungsreize wegfallen. Gerade wegen der hohen Bedeutung kognitiver, sozialer und emotionaler Arbeitsanforderungen fällt es vielen Menschen schwer, innerlich abzuschalten.
Erholungskompetenz umfasst zusammengefasst folgende individuelle Haltungen, Fähigkeiten und Kenntnisse:
- Wissen um die Bedeutung der Erholung für die Leistungsfähigkeit, das allgemeine Wohlbefinden und die Gesundheit als Grundlage für die Motivation, Zeit für Erholung (auch während der Arbeit) von vornherein mit einzuplanen; hierzu gehört auch die innere Einstellung, Erholung auf positive Weise mit dem eigenen Selbstbild und sozialen Normen verknüpfen zu können;
- Belastungen und Ressourcen differenziert einschätzen können, gute Selbstwahrnehmung für Beanspruchungen und Kenntnis von "persönlichen Beanspruchungsauslösern" (Clauß et al., 2016); Fokus auf den mentalen, emotionalen, physischen, sozialen Bereich sowie Fragen der Sinnhaftigkeit (An welchen Markern lassen sich persönliche Belastung, positive Aktivierung oder ein entspannter Zustand erkennen? Auf welche Ressourcen kann zurückgegriffen werden?);
- sich funktionale Erholungsstrategien aneignen und diese systematisch im Alltag einbauen, um Beanspruchungen gezielt kurz-, mittel- und langfristig auszugleichen beziehungsweise abzupuffern (zum Beispiel durch Wechsel von Aufgaben, um andere Bereiche zu beanspruchen, oder gezielte Ausgleichsbewegungen wie Gleichgewichtsübungen, um mentale Beanspruchungen auszugleichen, oder Spaziergänge in der Mittagspause oder Hobbys, die so viel Freude bereiten oder so viel Aufmerksamkeit benötigen, dass alles andere vergessen werden kann);
- gelingende Umstellung auf Erholung (Distanzierungsfähigkeit) (vgl. Sonnentag & Fritz, 2007), sodass Erholungsmaßnahmen dazu führen, sich auch unter Druck entspannen zu können (Clauß et al., 2016);
- gesunder, ausreichender Schlaf (als wichtigster Erholungsfaktor) und gesundheitsförderlicher Umgang mit erholungsbeeinflussenden Substanzen wie Koffein, Nikotin und anderen Drogen (Aufputschmittel, Entspannungsmittel).
Erholungskultur
Neben diesen individuellen Einflussgrößen auf die effektive Erholungskompetenz sollten auch die Erholungskultur einer Organisation und die Erholungsinfrastruktur berücksichtigt werden. Wenn in einer Organisation oder einem Betrieb zum Beispiel der Eindruck herrscht, man sollte eigentlich immer beschäftigt sein, suchen sich Mitarbeitende "Nebentätigkeiten", die ihre Pausen kaschieren. Aufschlussreiche Kontrollfragen hierzu lauten: "Was tue ich, wenn eine vorgesetzte Person den Raum betritt?" und "Was tun meine Mitarbeitenden, wenn ich den Raum betrete?" Führungskräfte sind als Modell und Richtunggebende entscheidend für die Prägung der Erholungskultur einer Organisation:
- "Werden E-Mails zwischen 19 Uhr abends und sieben Uhr morgens, am Wochenende oder aus dem Urlaub versandt?"
- "Werden Pausenzeiten genutzt, um liegen gebliebene Arbeiten schnell zu erledigen?"
- "Werden neben den Mahlzeiten noch E-Mails oder Schriftstücke bearbeitet?"
- "Gibt es Zwischenpausen zwischen (digitalen) Meetings?"
- "Welchen Stellenwert haben Pausenzeiten für informelle Begegnungen oder fallen diese einem hohem Arbeitsaufkommen sofort zum Opfer?"
Zur Erholungsinfrastruktur gehören örtliche Rückzugsmöglichkeiten, Balkone, Innenhöfe, Gärten, naheliegende Parks, Wälder, bereitgestellte Matten für Yoga-Übungen oder Bewegungsanregungen über Apps.
Selbstfürsorge
Allerdings ist es nicht ausreichend herauszufinden, wodurch Menschen sich besonders belastet fühlen und gezielte Erholungsmaßnahmen einzuleiten. Es sollte auch darum gehen, wie Arbeitszusammenhänge so gestaltet werden können, dass menschengerechte Arbeit möglich wird. Dazu gehört neben der Entspannung auch die Aktivierung, sodass eine natürliche Balance zwischen Anstrengung und Regeneration gefördert wird. Erholungskompetenz sollte kein weiterer Punkt auf der ohnehin schon langen To-do-Liste werden und damit zur Selbstoptimierung und permanenten Leistungssteigerung „verzweckt“ werden, um noch länger fit im Hamsterrad zu bleiben. Im Kern geht es um (Selbst-)Fürsorge, um den Kontakt zur eigenen Wahrnehmung, zum eigenen Körper, zur eigenen Psyche und damit zur Lebendigkeit als Mensch.
Zum Menschsein gehören – wie das Ein- und Ausatmen – natürliche Rhythmen von Anspannung und Entspannung, das heißt: auch Räume und Zeiten für Regeneration genauso wie für interessante Arbeitsanforderungen. In einer Arbeitswelt vielfacher Beschleunigung sind Zeiten für die Reflektion dessen, was Menschen erreichen wollen, was sie tun, wie sie gemeinsam leben wollen, ganz zentral. Dabei geht es nicht lediglich um Entschleunigung, sondern um die Förderung von Zeitvielfalt: die Vorteile der Schnelligkeit nutzen, wo es Sinn macht, Langsamkeit hingegen walten lassen, wenn es um das Klären von Sinnfragen, Genauigkeit, Arbeit am Detail, neue Ideen und Genuss geht. Insbesondere Pausen als Zwischenräume haben eine wesentliche Bedeutung für soziales Miteinander und das Nachklingenlassen von Inhalten, "weil in ihnen nichts geschieht, geschieht etwas, was sonst nicht geschehen würde" (Lesch et al., 2021).
Systemisches Denken fordert eine Allparteilichkeit, die möglichst alle Blickwinkel berücksichtigt. In diesem Sinne führt eine Parteilichkeit für die Ermüdung dazu, mehr zu überlegen, was gelassen werden kann, als zu überlegen, was noch zu tun ist. Konkret könnte dies bedeuten, eine Let-it-be-Liste zu erstellen. In der Ermüdung oder gar Erschöpfung können auch tieferliegende Bedürfnisse durchscheinen, wie die Frage nach einem sinnerfüllten und glücklichen Leben. Wenn dann Ermüdung lediglich durch passende Erholungsstrategien ausgeglichen wird, kommt es zu keiner produktiven Unzufriedenheit, die sich nicht mehr mit dem Status quo abfindet, sondern soziale, betriebliche und gesellschaftliche Bedingungen verändern will.
Fazit
Abschließend lässt sich klar feststellen, dass Beanspruchungen, die infolge unsozialer und unmenschlicher Arbeits- und Lebensbedingungen entstehen, nicht durch die Forderung nach persönlicher Erholungskompetenz auszugleichen sind, sondern durch eine entsprechend veränderte Gestaltung der Bedingungen, in denen Arbeit und Leben stattfinden. Erholungskompetenz ist nicht an sich positiv, sondern muss im jeweiligen Kontext betrachtet werden. Gleichzeitig ist sie eine wichtige Kompetenz in heutiger Zeit, um mit Arbeitsanforderungen auf Dauer gesundheitsförderlich umgehen zu können und längerfristig arbeits- und auch genussfähig zu bleiben.
Literatur
Allmer, H. (1996): Erholung und Gesundheit. Grundlagen, Ergebnisse und Maßnahmen. Gesundheitspsychologie. Band 7. Göttingen.
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) (Hg.) (2020): Stressreport Deutschland 2019. Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dortmund/Berlin/Dresden. URL: www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Stressreport-2019.html (Abruf: 17.7.2024)
Clauß, E.; Hoppe, A.; Schachler, V.; Dettmers, J. (2016): Erholungskompetenz bei Berufstätigen mit hoher Autonomie und Flexibilität. In: PERSONALquarterly, S. 22-27. URL: www.researchgate.net/publication/303837326_Erholungskompetenz_bei_Berufstatigen_mit_hoher_Autonomie_und_Flexibilitat (Abruf: 17.7.2024)
Gilbert, K.; Kirmsel, K. A.; Pietrzyk, U.; Steputat-Rätze, A. (2020): Gestaltungshinweise für die praktische Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. In: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 74, S. 89-99. URL: doi.org/10.1007/s41449-020-00201-2 (Abruf: 17.7.2024)
Lesch, H.; Geißler, K.; Geißler, J. (2021): Alles eine Frage der Zeit. Warum die „Zeit ist Geld“-Logik Mensch und Natur teuer zu stehen kommt. München.
Seiler, K. (2011): Editorial: Moderne Arbeitswelt, Arbeitszeit und Erholung – ein spannungsreiches Gestaltungsfeld für die Arbeitswissenschaft. In: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 65, S. 93-95. URL: link.springer.com/content/pdf/10.1007/BF03373823.pdf (Abruf: 17.7.2024)
Sonnentag, S.; Fritz, Ch. (2007): The Recovery Experience Questionnaire: Development and validation of a measure for assessing recuperation and unwinding at work. In: Journal of Occupational Health Psychology, 12 (3), S. 204-221. URL: kops.uni-konstanz.de/bitstream/handle/123456789/10086/Sonnentag_Fritz_2007.pdf;sequence=1 (Abruf: 17.7.2024)
Stewart, I.; Joines, V. (1994): Die Transaktionsanalyse. Eine neue Einführung in die TA mit zahlreichen Abbildungen, Übungen und Hinweisen für die Praxis. Freiburg, Basel, Wien: Herder-Verlag, 1990.
Techniker Krankenkasse (2024): Gesundheitsreport. URL: www.tk.de/resource/blob/2168508/ee48ec9ef5943d2d40dc10a76bedf290/gesundheitsreport-au-2024-data.pdf (Abruf 17. 7.2024)
Willing-Kertelge, A. (2023): „Erholungskompetenz“ – auf dem Weg zu einer natürlichen Balance zwischen Aktivierung und Entspannung. Konzeptionelle Impulse für die Supervision. Masterthesis im Studiengang Supervision & Coaching an der Katholischen Hochschule NRW, URL: doi.org/10.17883/4604 (Abruf: 30.7.2024)