„Hand aufs Herz“, fragte meine Patentante, „wie oft legst du einfach mal dieses Ding zur Seite?“ Mit dem Ding meinte sie mein Handy und eine treffende Antwort konnte ich ihr nicht geben. Wie auch? Ich brauche es zum Leben, zum Arbeiten und zur Inspiration. Überhaupt: Was wusste sie schon über uns, die Digital Natives, über Soziale Netzwerke, Fotocommunitys und Dating Apps? Jedoch lässt mich die Frage nicht los. Ich liege im Bett, auf dem Laptop läuft lautlos eine Serie, mein Rucksack mit Unterrichtsmaterialien liegt in Sichtweite und die Nachrichten eines Gruppenchats lassen mein Handy in kurzen Abständen leise surren. Es ist später, sehr später Abend, und das Einschlafen fällt schwer.
Ruhelos
„Hand aufs Herz“, sagte sie. Daher lege ich meine Hand auf mein Herz und fange an zu zählen. 80 Schläge pro Minute. Ich google mit dem Daumen meiner rechten Hand, um herauszufinden, ob mein Herz richtig schlägt. 80 scheint im Ruhezustand eine angemessene Zahl zu sein. Dabei empfinde ich keine wirkliche Ruhe, obwohl mein intaktes Herz in meinem Anfang zwanzigjährigen Körper schlägt, wie es schlagen soll, und meine Arme und Beine das tun, was sie tun müssen. Sie bringen mich von A nach B, was meist über C, D, E, F und G geschieht. Gut, etwas mehr Sport, etwas mehr Sauerstoff könnten sein. Vielleicht auch etwas weniger swipen, liken und posten – aber das weiß ich bereits.
Innerlich spüre ich, wie mich dieser als simple Frage verpackte Ratschlag weitaus mehr aus der Fassung bringt, als er sollte. Sie meinte es wahrscheinlich nur gut. Doch was meine Patentante, unsere Eltern und der Rest der Baby Boomer nicht verstehen, ist, dass wir vielleicht unsere Geräte ausschalten können, aber nicht unsere Köpfe. Auch wenn mein Handy aus ist, denke ich über mein Handy nach. Möchte ich schauen, wer ein Foto geliked und einen Post kommentiert hat. Natürlich bin ich schlau genug, dies zu erkennen. Doch am Ende gewann bisher immer mein Smartphone.
Digital Detox
Ich google „Digital Detox“, informiere mich im Internet über Tricks zu weniger Internet und lächle in mein dunkles Zimmer hinein, das nur durch den milchig weißen Bildschirm erhellt wird. Eine Nachricht erscheint auf meinem Handybildschirm: Paul kommentiert ein Foto mit „Zwinkersmiley, Melone, Hundewelpen“. Aber zurück zu meinen Gedanken – kann ich mehrere Stunden am Tag oder mehrere Tage in der Woche auf diesen farbenfrohen, pastellfarbenen Zirkus verzichten, der mich konstant mit auf Welttournee nimmt? Möchte ich das überhaupt?
Wo sonst kann mich von meinem bequemen Sofa mit zum Yoga im Park nehmen lassen? Wo sonst kann ich in wenigen Minuten den stärksten, schönsten und reichsten Menschen meines Alters beim Leben zuschauen? Sie dabei beobachten, wie sie kunstvoll auf ihrem Drahtseil aus Spaß und Verpflichtung balancieren, als ginge es bei ihnen nicht ums Erwachsenwerden und das Finden des eigenen Weges. Wackelt mein Seil stärker als ihres? Oder habe ich mein inneres Gleichgewicht einfach noch nicht gefunden?
Ich könnte natürlich auch Yoga machen. Besonders, weil ich seit einem Jahr jeden Monat etwa 50 Euro für ein Fitnessstudio zahle, das ich bisher zweimal von innen gesehen habe. Oder eine Saftkur? Weniger Fleisch? Keine Milch? Weniger besitzen, um mehr vom Leben zu haben? In einem Artikel lese ich über „Achtsamkeit“ und frage mich, wer denn wirklich Zeit dafür hat, weniger zu tun? Mein Leben ist ein Karussell und es fühlt sich in diesem Moment so an, als wüsste ich nicht, wie ich es zum Anhalten bringe.
Auf dem Weg zur Achtsamkeit
Meine linke Hand liegt immer noch auf meinem Herz und dieser Ort fühlt sich, nachdem sie bereits eine ganze Zeit dort liegt, warm und aufgehoben an. Und das ohne, dass ich es wirklich mitbekommen habe. Ist das bereits mein erster, bewusster Schritt zu mehr Achtsamkeit? Auf meine Gedanken und mein Herz zu hören? Seine Schläge zu zählen und darauf zu achten, wann es schneller und langsamer wird?
Ich schließe den Laptop, stelle mein Handy auf Flugmodus, lege mich flach auf die weichen Laken und lasse eine innere Drohne über meinen gesamten Körper fliegen. Langsam gleitet sie von meinen Zehenspitzen über meine Knie, den Bauch bis hin zu meiner Stirn. Mit geschlossenen Augen zähle ich immer wieder die Schläge meines Herzens und stelle fest, seit Langem nicht mehr so ruhig und leicht gewesen zu sein.
Ist das bereits dieses Digital Detox, von dem alle reden? Bewusstes Abschalten von Gerät und Kopf? Ich nehme mir vor, den Mainstream für einige Zeit ohne mich fließen zu lassen, um mich bewusst an ein anderes, von der schnell rotierenden Welt abgeschottetes Ufer zu legen. Ich nehme mir vor, mehr im Hier und Jetzt zu sein, und die Welt da draußen, die mir immer einen Schritt voraus zu sein scheint, vor meiner Tür stehen zu lassen.
All das verspreche ich mir. Hand aufs Herz.