Wie genau entwickelt sich ein Schmerzgedächtnis? Kann man diesem vorbeugen? Und kann man als Patientin oder Patient mit chronischen Schmerzen ein bereits bestehendes Schmerzgedächtnis selbst wieder löschen oder löschen lassen? Antworten zu den Mechanismen des Schmerzgedächtnisses und wie sich ihm entgegenwirken lässt.
Das Schmerzgedächtnis ist sowohl eine mögliche Folge als auch eine mögliche Ursache länger anhaltender Schmerzen. Denn anhaltende oder starke Schmerzen können tiefgreifend verändern, wie das Nervensystem auf Schmerzreize reagiert und wie es Schmerzsignale an das Gehirn überträgt. Das ist vergleichbar mit einer Umprogrammierung des normalen Schmerzempfindens hin zu einer sensibleren, intensiveren Schmerzwahrnehmung. Als Folge können chronische Schmerzen entstehen.
Schmerzgedächtnis: Wie es sich bildet
Bei vielen Sinnesreizen, die länger andauern oder immer wiederkehren, stellt sich mit der Zeit eine Gewöhnung ein, die uns vor Reizüberflutung schützt. Beispiel Straßenlärm: Wenn man bei offenem Fenster am Schreibtisch arbeitet, achtet man nach einer Weile nicht mehr auf jedes vorbeifahrende Auto.
Beim Schmerzempfinden aber gibt es einen solchen Gewöhnungseffekt nicht: Anhaltender oder sich wiederholender Schmerz führt nicht zu einer gewöhnungsbedingten Minderung der Schmerzwahrnehmung. Stattdessen kommt es bei vielen Menschen nach intensiver, anhaltender oder wiederkehrender Schmerzerfahrung zu einer höheren Schmerzempfindlichkeit.
Zudem prägt sich diese Erfahrung ein wie eine Gravur und bleibt bestehen, selbst wenn der ursprüngliche Schmerzauslöser gar nicht mehr existiert. Deshalb spricht man vom Schmerzgedächtnis.
Genauer betrachtet finden diese „Gravuren“ im zentralen Nervensystem statt. Starke und/oder wiederholte Schmerzreize hinterlassen sogenannte Schmerzspuren, die im Bereich des Rückenmarks, wahrscheinlich aber auch im Gehirn zelluläre Veränderungen bewirken.
Die für den Schmerz zuständigen Rezeptoren und Nervenzellen sind daraufhin leichter erregbar als vor der belastenden Schmerzerfahrung. In der Folge kommt es zu einer dauerhaft verstärkten Übertragung von Schmerzinformationen. Die Entstehung eines Schmerzgedächtnisses kann daher mit dem Lernen verglichen werden: Ähnlich wie das Langzeitgedächtnis wiederholte Lerninhalte erinnert, werden hier wiederholte oder starke schmerzhafte Erfahrungen gespeichert.
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Bei den Betroffenen kann sich das entstandene Schmerzgedächtnis auf verschiedene Weise bemerkbar machen:
- als krankhaft gesteigerte Schmerzempfindlichkeit
- als Schmerzen nach Reizen, die normalerweise nicht mit Schmerzen einhergehen
- als anhaltende, wiederkehrende oder spontan auftretende Schmerzen ohne irgendeinen erkennbaren Auslöser
So versucht unser Körper, uns vor Schmerzen zu schützen
Wichtig zu wissen: Der menschliche Körper besitzt einen effektiven Schutzmechanismus, der über die Ausschüttung körpereigener Stoffe (zum Beispiel Opioide, Serotonin) Schmerzreize hemmen und dadurch auch einen Schutz vor der Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses bieten kann. Die Wissenschaft geht davon aus, dass eine gestörte oder unzureichende Schmerzabwehr die Entstehung eines Schmerzgedächtnisses maßgeblich erleichtert. Es ist jedoch noch viel Forschungsarbeit nötig, um das Schmerzgedächtnis im Detail zu verstehen.
Dem Schmerzgedächtnis vorbeugen: Akute Schmerzen frühzeitig behandeln
Der beste Weg, ein Schmerzgedächtnis und daraus entstehende chronische Schmerzen zu verhindern, ist, dieses Schmerzgedächtnis erst gar nicht entstehen zu lassen. Zur Erinnerung: Ein Schmerzgedächtnis bildet sich aufgrund starker oder länger anhaltender oder sich wiederholender Schmerzimpulse.
Diese Schmerzimpulse sind oftmals die Folge unbehandelter oder falsch behandelter akuter Schmerzsituationen. Daher ist eine möglichst schnelle und individuell zielgerichtete Therapie bei akut auftretenden Schmerzen der effektivste Weg, einem Schmerzgedächtnis vorzubeugen.
Können neueste Forschungsergebnisse ein Schmerzgedächtnis verhindern?
Kontrovers diskutiert wird, ob bei vorhersehbaren Schmerzsituationen wie Operationen eine umfassende Schmerzunterdrückung (präventive Analgesie) mit bestimmten Medikamenten verhindern kann, dass sich ein Schmerzgedächtnis bei den Patientinnen und Patienten entwickelt. Es geht dabei also nicht nur darum, akute Schmerzen mit Schmerzmitteln zu behandeln, sondern darum, Schmerzen ganzheitlich zu verhindern. Auch hier ist noch viel Forschungsarbeit nötig, um den Nutzen dieses Ansatzes besser beurteilen zu können.
Schmerzgedächtnis löschen: Gibt es beim Schmerzempfinden ein Reset?
Hat sich erst einmal ein Schmerzgedächtnis gebildet und äußert es sich in Form belastender chronischer Schmerzen, stehen behandelnde Ärztinnen und Ärzte vor der herausfordernden Frage: Wie sieht die individuell richtige Therapie aus, um meiner Patientin oder meinem Patienten die andauernde Schmerzbelastung zu nehmen?
Das große Problem dabei: Unser Nervensystem, also unsere Nervenbahnen in Gehirn und Rückenmark, hat leider keine Resettaste. Es gibt zwar Medikamente, die auf das Schmerzgedächtnis einwirken können, aber noch keine Medikamente, die ein Schmerzgedächtnis de facto löschen könnten.
Der therapeutische Ansatz muss daher zumindest derzeit in eine andere Richtung gehen. Das Schlagwort in der Medizinersprache heißt hier „Gegenirritation“. Ziel ist es, die gesteigerte Schmerzempfindlichkeit des zentralen Nervensystems durch verschiedene Therapiemaßnahmen so weit wie individuell möglich zurückzunehmen beziehungsweise zu überschreiben.
Es geht hier also nicht um ein Löschen des Schmerzgedächtnisses im engen Sinne, sondern eher um eine bestmögliche Abkehr von der erfolgten Sensibilisierung. Einfacher ausgedrückt, soll das Nervensystem mittels Gegenirritation lernen, mit Schmerzreizen wieder möglichst normal umzugehen.
Zu den Verfahren, die zur Gegenirritation angewendet werden, gehören derzeit:
- die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), bei der über aufgeklebte Elektroden therapeutischer Reizstrom abgegeben wird
- die physikalische Schmerztherapie in Form von Wärme- oder Kälteanwendungen
- bestimmte Formen der (Elektro-)Akupunktur
Kann ich das Schmerzgedächtnis selbst löschen?
Diese Frage stellen sich wahrscheinlich viele Betroffene, die unter häufigen Schmerzen leiden. Auch wenn man ein Schmerzgedächtnis im eigentlichen Sinne nicht (selbst) löschen kann, können Betroffene sehr viel selbst dazu beitragen, dass sich belastende Schmerzen bessern.
Denn eine wichtige Säule der multimodalen Schmerztherapie (siehe nächster Abschnitt) ist die Therapieadhärenz: das aktive Mitwirken der Patientinnen und Patienten an der Behandlung, beispielsweise mit regelmäßigen Übungen zur Schmerzbewältigung wie Meditation und Entspannungsverfahren.
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Dem Schmerzgedächtnis entgegentreten: Die multimodale Schmerztherapie
Zur Behandlung chronischer Schmerzen, die im Zusammenhang mit einem Schmerzgedächtnis bestehen, können Ärztinnen und Ärzte eine individuell zusammengestellte multimodale Schmerztherapie einleiten.
Dazu gehören neben den bereits genannten Verfahren zur Gegenirritation auch medikamentöse Maßnahmen, physiotherapeutische Maßnahmen sowie psychotherapeutische Maßnahmen, die die Resilienz (Widerstandskraft) gegenüber Schmerzen stärken sollen.
Eine mögliche Maßnahme ist es, mit Meditation und Achtsamkeitsübungen den Aufmerksamkeitsfokus zu verschieben: weg von den Schmerzen, hin zu einer konkreten Tätigkeit oder einer Quelle der Freude. Denn auch körpereigene Glückshormone (Endorphine) können den Schmerz effektiv lindern.
Falls auch Sie unter wiederkehrenden oder bereits länger andauernden Schmerzen leiden, sollten Sie nicht zögern, mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt darüber zu sprechen. Durch eine genaue Abklärung der Schmerzursachen und die individuell am besten geeigneten Therapiemaßnahmen kann häufig verhindert werden, dass Schmerzen chronisch werden.
Chronische Schmerzen früh vermeiden – mit multimodaler Schmerztherapie
Bei der multimodalen Therapie gegen chronische Schmerzen werden Sie von Schmerzexpertinnen und -Experten behandelt. Sie müssen hierfür nicht in ein Krankenhaus, sondern profitieren von einer berufsbegleitenden, ambulanten Behandlung. Für Barmer-Mitglieder, die am Versorgungsangebot teilnehmen, ist die Therapie kostenfrei.
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