Die Corona-Pandemie hat dem Leben vieler Menschen eine neue Richtung gegeben. Welche Stärke in einer Krise steckt und wie jeder den Mut findet, sie als Chance zu nutzen und ein neues Leben zu beginnen.
Etwas Neues wagen, den Stier bei den Hörnern packen – das ist meist gar nicht so einfach. Doch die Corona-Pandemie hat von vielen Menschen verlangt, aus ihren bisherigen Bahnen auszuscheren. Weil ihr Job plötzlich nicht mehr gefragt war. Oder weil ihre Zukunftspläne wie Seifenblasen platzten. Doch was, wenn die Angst zu groß ist, um einen Neuanfang zu wagen? Was, wenn einen in der Krise der Mut verlässt, oder man sich zu alt fühlt, um noch einmal ganz von vorn zu beginnen? Und was sagt eigentlich die Psychologie dazu?
Der Soziologe und Philosoph Dirk Gemein berät Menschen, die ihr Leben verändern wollen oder müssen. Er ist überzeugt, dass sich Angst vor der Veränderung in Zuversicht umwandeln lässt. „Sich vor Einschnitten im Leben zu fürchten, ist normal. Erdrückt die Angst uns aber, werden wir unflexibel.“ Man könne lernen, im Verlust eine Chance zu sehen und in einer Krise etwas Positives. „Gerne zitiere ich den Achtsamkeitstrainer Jon Kabat-Zinn: Du kannst die Wellen nicht aufhalten, aber du kannst lernen zu surfen.“
Loslassen um aufzubrechen
Vor dem Neustart steht das Loslassen. Und das fällt vielen Menschen nicht so leicht. „Wir wollen meist viel haben und viel behalten“, beschreibt es Soziologe Gemein. Sicherheit vor allem: Laut „Deutschland- Puls“ stand sie schon 2017 für 72 Prozent der Deutschen an oberster Stelle. Die Corona-Pandemie hat das Sicherheitsbedürfnis der meisten laut dem Deutschen Institut für Altersvorsorge sogar noch erhöht. Allzu menschlich wahrscheinlich: Gerade wenn viele Gewissheiten weg brechen, wollen wir Bewährtes festhalten und scheuen das Wagnis. „Doch alles bewahren zu wollen, erschwert einen Neuanfang", gibt Gemein zu bedenken.
Soziale Sicherheit kennt Graciela Cucchiara nur aus Deutschland. Mit 26 wanderte die Argentinierin nach Italien aus, später nach München. „Südamerikanerinnen und Südamerikaner sind es gewohnt, Krisen durchzustehen, mit wenig Geld zurechtzukommen und immer einen Plan B zu haben“, sagt die 64-Jährige. „Wir denken nicht, dass alles im Leben selbstverständlich ist, im Gegenteil: Nichts ist sicher.“
Cucchiara ist in München für Kochevents in ihrer „Kochgarage“ bekannt. Corona hat ihr Leben durcheinandergewürfelt: Eigentlich wollte sie 2020 nach Süditalien ziehen und dort eine Kochschule gründen. Stattdessen eröffnete Cucchiara letzten Sommer in München einen „Alimentari“, wo sie italienische Feinkost und Gerichte zum Mitnehmen anbietet. Ihre Kochevents finden nur noch online statt. „Änderungen im Leben sind total okay“, sagt sie. „Ich mag Herausforderungen und liebe es, von Null anzufangen.“ Cucchiara lebt, wie sie kocht: „Ich könnte nie jeden Tag das Gleiche zubereiten!“
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Sind Mut und Zuversicht lernbar, wenn man nicht wie Cucchiara damit aufgewachsen ist? „Durchaus“, sagt Soziologe Dirk Gemein. Wir müssten uns nur um das kümmern, was uns vom Gücklichsein abhält: „Glück ist nicht permanente Euphorie, wie viele denken. Glück ist die Abwesenheit von Leid, eine nachhaltige Zufriedenheit.“
Jeder solle seinen Blick nach innen richten und sich fragen: Was macht mich unglücklich? Und wie kann ich es abstellen? „Sein Leben zu ändern, heißt nicht, alles neu zu starten – sondern nur woanders abzubiegen als gewohnt.“ Die Zaudernden und Zaghaften, die sich vor Veränderungen fürchten, ermutigt Gemein oft mit einem Verweis auf die großen Denker. „Philosophisch gesehen gibt es keinen Stillstand. Alles fließt, nichts hat einen Anfang oder ein Ende, sagte Heraklit.“
Von der Stadt aufs Dorf
Im Leben von Stephanie Fahnemann haben sich in den letzten zwei Jahren viele Dinge verändert – hin zu einem ganz neuen Lebensgefühl. Nach 21 Jahren in Hamburg zog es die bis dahin überzeugte Städterin im Frühjahr aufs Land. Im schleswig-holsteinischen Glasau, wo sie ein kleines Haus gemietet hat, leben gerade mal 874 Menschen, die Ostsee ist eine halbe Autostunde entfernt.
„Ich hatte Sehnsucht nach weniger Hektik und der Blick in die Weite ist mir wichtiger geworden“, sagt die 47-Jährige. Ende 2019 hatte sie ihren gut bezahlten Job im Eventbereich gekündigt – ohne einen neuen in Aussicht. „Geld ist nicht alles, denn Wohlbefinden bekommt man dadurch nicht“, sagt Fahnemann heute zu dieser Vollbremsung. „Die Kündigung war für mich eine Befreiung.“
Erstmal. Dann veränderte die Pandemie die ganze Welt und die Event-Expertin musste ausgerechnet im Krisenjahr Bewerbungen schreiben. „Ich hatte kein fettes Sparkonto und bewarb mich auf alles Mögliche. Gleichzeitig wuchs in meinem Kopf die Idee von Selbständigkeit.“ Corona schubste Stephanie Fahnemann vom Event-Bereich in eine neue Nische: als Beraterin von Unternehmen. Denen sagt sie: „Nutzt die Krise als Chance. Verändert euer Produkt, findet neue Zielgruppen, denkt einen Schritt weiter!“ Manchmal seien wir so gefangen in der Komfortzone, sagt die 47-Jährige, dass wir die Möglichkeiten übersehen. Für ihre neue Website hat Fahnemann ein Zitat von Aristoteles gewählt: „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“
Das Positive im Nachhinein
Ob sie dauerhaft selbstständig segelt? Mal schauen. „Wenn ich nicht davon leben kann, verändere ich eben wieder etwas. Zur Not verkaufe ich Fischbrötchen.“ Die Pandemie, sagt Fahnemann, habe ihren Mut zum Neuanfang befeuert. So zufrieden wie jetzt sei sie noch nie gewesen. „Mein Leben hat auch in der Krise keinen Rückschritt gemacht. Es ist nur in eine andere Richtung gegangen.“
Nicht allen fällt es so leicht, einen Rückschlag als Chance zu begreifen und die Kraft für einen Neuanfang aufzubringen. Doch es lohnt sich – auch wenn das Positive an der Veränderung einem manchmal erst im Nachhinein auffällt. Mit etwas Abstand wird dann klar: Auch wenn das neue Leben nicht mehr genauso ist wie vorher, schenkt es einem doch meistens etwas, das einem früher fehlte.
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