„La destinée des nations dépend de la manière dont elles se nourrissent.” Jean-Anthelme Brillat-Savarin (1755–1826)

Als der französische Gourmet und Schriftsteller Jean-Anthelme Brillat-Savarin im Jahre 1826 sein Lebenswerk „Physiologie du goût“ (Physiologie des Geschmacks) veröffentlichte, prägte er den Aphorismus „Das Schicksal der Nationen hängt von der Art ihrer Ernährung ab“. Als großer Anhänger der Kochkunst ging es ihm dabei um Tafelfreuden – geradezu philosophisch war seine Beschäftigung mit deren lukullischer, kultureller und auch gesundheitlicher Bedeutung.

An das Schicksal der Nationen fühlt man sich auch heute noch unweigerlich erinnert, wenn es um Lebensmittel und Essen geht. Nationale Sichtweisen und Gepflogenheit prägen nach wie vor den Stellenwert des Themas und den Umgang damit, wie es wahrscheinlich jeder schon einmal im Urlaub erlebt hat. Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn aus jeweils lecker empfundenen nationalen Spezialitäten ein gesetzgeberisches europäisches Gericht, möglichst mit mehreren Gängen, entstehen soll. Das erfordert, sich auf bisher eher skeptisch Beäugtes einzulassen, Kompromisse einzugehen und einfach einmal abzuwarten, wie das Ergebnis am Ende schmeckt. Fehlt all das, dann entsteht kein wohlschmeckendes Menü, sondern allenfalls ein klägliches Mahl, auf das man sich gerade eben so einigen konnte.

Die Zubereitung von Gesetzen in der Europäischen Union krankt seit langem am Dilemma nationaler Denkweisen und der mangelnden Bereitschaft zu Kompromissen. Das zeigt sich auch im Lebensmittelrecht. Kaum eine Verordnung oder Richtlinie der letzten Jahre ist über den Standard eines einfachen Basisgerichts hinaus gekommen, manches ist sogar gänzlich misslungen und gehört eigentlich entsorgt. Besondere Probleme bereiten aber diejenigen Gerichte, bei denen der europäische Verordnungsgeber eine Grundrezeptur festlegt, aber das Würzen oder Abschmecken auf später vertagt. Und dabei bleibt es dann allzu oft.

So verhält es sich auch mit Nahrungsergänzungsmitteln. Diese Speise schmeckt nicht jedem, einige scheinen sie zu lieben, andere halten sie für weitgehend überflüssig oder sogar der Gesundheit abträglich. Die Diskussionen über ihre Zubereitung beruhen dabei nicht immer auf wissenschaftlichen Grundlagen. Im Gegenteil, mitunter dominieren interessensgetriebene oder ideologisch motivierte Standpunkte, wie in jeder Küche.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich die Mitgliedsstaaten im Jahr 2002 nur auf ein eher rudimentäres gesetzliches Werk zu Nahrungsergänzungsmitteln einigen konnten. Mit der Richtlinie 2002/46/EG erkannten sie an, dass eine „geeignete, abwechslungsreiche Ernährung […] in der Regel alle für eine normale Entwicklung und die Erhaltung einer guten Gesundheit erforderlichen Nährstoffe […] bieten“ sollte, mussten aber zugleich feststellen, dass „dieser Idealfall in der Gemeinschaft nicht auf alle Nährstoffe und alle Bevölkerungsgruppen zutrifft“, so dass sich Verbraucher „mitunter dafür [entscheiden], die Zufuhr bestimmter Nährstoffe durch Nahrungsergänzungsmittel zu ergänzen.“ Womit es sich übrigens so verhält wie bei den Lebensmitteln auch: Jedem Verbraucher steht frei, das zu verzehren, was ihm schmeckt oder was er für bekömmlich hält.

Der europäische Gesetzgeber wies damals auch darauf hin, dass die Erzeugnisse „sicher und mit einer ausreichenden und sachgerechten Kennzeichnung versehen sein“ müssen. Das entspricht den allgemeinen Anforderungen des Lebensmittelrechts. Es gelang den „Köchen“ auch festzulegen, wie das Gericht „Nahrungsergänzungsmittel“ aussehen muss, welche Vitamine und Mineralstoffe enthalten sein können und in welcher Form sie zugegeben werden dürfen. Dann aber war offenbar aller Konsens vorbei und die unterschiedlichen nationalen Vorlieben verhindern bis heute, dass die Rezeptur komplett ist. Strittig – und national sehr unterschiedlich betrachtet – bleiben vor allem die Verwendung „sonstiger Stoffe“ sowie Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe. Letztere sind in Art 5 der Richtlinie explizit angekündigt, aber auch nach mehr als 15 Jahren noch nicht erlassen.

Dabei hatte es 2007 noch so ausgesehen, als stünde eine Einigung auf europäischer Ebene unmittelbar bevor.Footnote 1 Im Vorfeld wurden Höchstmengen als „Tolerable Upper Intake Levels“ (UL) zusammengetragen, verschiedene Risikomanagementmodelle diskutiert und schließlich ein Modell favorisiert. Es wäre also nur noch erforderlich gewesen, die Zutaten langsam und schonend zu garen und das Rezept dann zu veröffentlichen. Plötzlich aber war es vorbei mit der Einigkeit unter den Köchen und die im Hintergrund schwelenden Streitigkeiten traten offen zu Tage. Offenbar herrschte bei einigen Köchen dann die Devise, lieber nicht mehr zu kochen als nachzugeben, eine derzeit auch bei Politikern zu findende Haltung.

Küchendramen können weitreichende Konsequenzen haben und so besteht bis heute eine Rechtsunsicherheit bei der Höchstmengenfrage in Europa. Schon immer wurde dies national sehr unterschiedlich gesehen und gehandhabt, was einer zentralen Idee der EU diametral entgegensteht, dem freien Warenverkehr. Noch wichtiger ist aber, dass der europäische Gesetzgeber den beabsichtigten einheitlichen Verbraucherschutz bis heute schuldig bleibt. Nicht jeder Koch mochte sich mit dieser Situation abfinden und so haben einige in den letzten Jahren begonnen, ihr nationales Höchstmengensüppchen zu kochen. Die bisher bekannten Kreationen, zuletzt aus Belgien, Österreich und Dänemark, schmecken allerdings sehr unterschiedlich und scheinen nicht jedem bekömmlich.

Auch in Deutschland wird die Diskussion um Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln seit langem geführt. Bereits im Jahr 2004 veröffentlichte das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zwei umfangreiche Dokumente mit entsprechenden Vorschlägen für Nahrungsergänzungsmittel und angereicherte Lebensmittel, seinerzeit vermutlich noch mit Blick auf die europäischen Bestrebungen. Nun liegt, wohl mit Fokus auf eine nationale Lösung, eine lang erwartete, auf den damaligen Empfehlungen basierende und unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse aktualisierte Ausarbeitung in der vorliegenden Ausgabe vor – und ist damit zur Diskussion freigegeben.

Die Küchenmeister des BfR, ob man ihre Herangehensweise und die erzielten Ergebnisse teilt oder nicht, haben ihren Standpunkt begründet und sehen in ihrer Risikobewertung einen adäquaten Ansatz, um die Bevölkerung vor einer überhöhten Aufnahme von Vitaminen und Mineralstoffen zu schützen, und gleichzeitig die Zufuhr relevanter Nährstoffmengen zu gewährleisten. Nachdenklich stimmen deshalb nicht die nackten Zahlenwerte, über die sich an einigen Stellen im Sinne eines wissenschaftlichen Diskurses trefflich streiten lässt, sondern ein anderer Umstand: Die aktuelle Publikation des BfR unterstreicht einmal mehr das Problem der „nationalen Süppchen“. Behörden anderer Mitgliedsstaaten kommen unter Berücksichtigung desselben derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes zu teils deutlich abweichenden Resultaten. Das verdeutlicht, dass es in der Höchstmengenfrage nicht nur um Wissenschaft geht, sondern immer auch um Politik und eine bestimmte (nationale) Haltung. Nur so ist zu erklären, dass die national teils rechtlich verbindlichen, teils unverbindlichen jeweiligen Höchstmengen in einem Ausmaß variieren, dass der Eindruck entsteht, man befinde sich nicht innerhalb Europas, sondern auf unterschiedlichen Planeten. So liegen beispielsweise die Grenzwerte für Vitamin D bei 5 bis 75 µg, für Vitamin B12 bei 3 bis 3000 µg pro Tag – alles mehr oder weniger gut begründet. Einen freien Warenverkehr kann man so jedenfalls nicht gewährleisten.

Womit wir wieder bei Jean-Anthelme Brillat-Savarin wären, der übrigens von Haus aus Jurist war und seinen Lebensunterhalt als Richter verdiente: Das Schicksal der Nationen hängt von der Haltung zu ihrer Ernährung ab. Nationale Höchstmengen stehen einem vereinten Europa entgegen, politisch wie auch juristisch. Denn die daraus resultierende Behinderung des freien Warenverkehrs und damit der Verstoß gegen ein europäisches Grundprinzip sind offensichtlich. Es wird dringend Zeit, dass die Köche sich wieder gemeinsam an den Herd begeben und das Süppchen kochen der Kleinstaaterei überwinden. Denn es bleiben nur zwei Optionen: Ein vereintes Europa mit einheitlichen Standards auf wissenschaftlicher Basis oder der faktische Zerfall der EU als Folge des prinzipiellen Festhaltens an Prinzipien aus Prinzip. Der Brexit lässt grüßen.