Die Berichte über OPSON VI vom April 2017 haben es wieder gezeigt: „die ganze Welt ist kriminell“. In einer gemeinsam koordinierten Aktion von Interpol und Europol wurden rund 10.000 Tonnen gefälschter Lebensmittel im Wert von 230 Mio. Euro in insgesamt 61 Ländern beschlagnahmt. Das klingt viel, aber ist es das wirklich? Der Gesamtumsatz der deutschen Lebensmittelwirtschaft beträgt rund 180 Mrd. Euro, die besagten 230 Mio. entsprechen also rund 0,13 Prozent des deutschen Lebensmittelumsatzes. Bezogen auf 61 Länder und wissend, dass nicht alle beteiligten Ländern den deutschen Lebensmittelumsatz aufweisen, lässt sich dieser Betrag überschlägig durch 20 dividieren – das wären dann durchschnittlich 0,005 Prozent der beschlagnahmten Lebensmittel aller Länder. Das klingt wenig. Ja, was denn nun?

Der Pferdefleischfall in 2013 zog eine große mediale Berichterstattung nach sich. Über Wochen berichteten und karikierten die Medien diesen echten gesellschaftlichen Skandal, doch am Ende des Berichtszeitraumes blieb die Message, dass Pferdefleisch insbesondere in Polen, In Frankreich, in Italien und in der französisch sprechenden Schweiz ein gängiges und beliebtes Lebensmittel sei und schon einmal gar nicht gesundheitsschädlich ist. Ja, was denn nun?

Für die einen ist Lebensmittelbetrug ein ernstzunehmendes Problem, das eine Straftat nach § 263 StGB darstellt und verfolgt werden muss. Für andere ist es ein eher geschickter Täuschungsversuch auf dem Level eines Kavaliersdelikts. Verschiedene Behördenberichte über gezielte Restaurantbesuche mit amtlicher Probenahme bei Fischgerichten zeigten, dass in rund 30 bis 45 Prozent der Fälle nicht der Fisch auf dem Teller lag, der auf der Speisenkarte stand und bestellt wurde: Limandes statt Seezunge, Tilapia und Pangasius aus Netzgehege statt atlantischer Wildfische ganz anderer Spezies. Da sagt doch ein Rechtsanwalt für Lebensmittelrecht zu mir: „Aber es hat doch geschmeckt und sind Sie satt geworden!“ Ja, was denn nun?

Irgendetwas stimmt hier nicht mit der Wahrnehmung. Lebensmittelbetrug gibt es, seit es die Menschheit gibt und hört offensichtlich auch nicht auf. Verfälschung von Wein und Milch mit Wasser gab es schon im Mittelalter, ist aber heute dank regelmäßiger und einfacher Analytik nicht mehr en vogue. Seit den 70er Jahren sind Fettsäuremuster bestimmbar und seitdem wissen wir, dass Fette und Öle gern auch mit preisgünstigeren verschnitten werden und dass nicht überall Olivenöl drin ist, wo es drauf steht – schon gar nicht das allgegenwärtige „prima vergine“.

Seitdem die Nachfrage für Bioprodukte steigt, lockt auch deren Austausch mit konventioneller Ware, weil er analytisch schwierig nachzuweisen ist. Dramatisch wird es, wenn der Betrug zu einem gesundheitsschädigenden Lebensmittel führt: Sonnenblumenöl, dem Altöl von Traktoren zugemischt wird (Ukraine 2009), Melamin in Milchpulver mit sechs toten und 300.000 verletzen Babys (China 2008) oder die ständig wiederkehrenden Fälle von Spirituosen mit Methanol (z.B. Türkei 2009) sind keine Kavaliersdelikte.

Apropos Wahrnehmung: Betrug ist nicht etwa spezifisch für Lebensmittel. Wir erinnern uns: LIBOR-Betrug durch die Deutsche Bank in Abstimmung mit anderen internationalen Banken, Austausch von pharmazeutischem Silikon in Brustimplantaten durch technisches Silikon mit gesundheitsgefährdenden Auswirkungen, Abrechnungsbetrug durch Ärzte und Apotheker gegenüber den Krankenkassen, Pflegebetrug durch internationale, bandenmäßig organisierte Gruppen, manipulierte Pharma-Studien, manipulierte Abgasmessungen bei Kraftfahrzeugen, manipulierte Akten in staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren, Steuerhinterziehung mit aktiver Unterstützung der Banken, Cum-Ex-Deals, abgeschriebene Dissertation von Bundesministern, Sozialbetrug in Verbindungen mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“, Korruption, Kartellbildung, usw. Straftaten dieser Art finden sich in allen Bereichen der Wirtschaft und ebenso im öffentlichen Dienst über alle Gesellschaftsschichten, in allen Organisationsformen und bei Einzelpersonen – just everywhere.

Insofern sind die derzeit bereits eingeleiteten Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene zur Bekämpfung von Lebensmittelbetrug richtig und zielführend.

Das EU-weite behördeninterne Datenaustauschsystem AAC (Administrative Assistance and Cooperation System), welches es den Behörden ermöglicht, Betrugsfälle zeitnah mit technischen Informationen zu kommunizieren, ist etabliert und wird tatsächlich angewendet. Das FFN (Food Fraud Network) mit Kontaktstellen in allen Mitgliedstaaten und teilnehmenden Organisationen ist eingerichtet. Der nunmehr dritte und durchaus schon ausführliche Annual Report 2016Footnote 1 des FFN ist gerade erschienen. In Deutschland läuft die Beobachtungs- und Warnstelle „BeoWarn“, das Forschungsprojekt „FoodAuthent” hat begonnen, der nationale Expertenbeirat Food Fraud tagt regelmäßig und gerade ist das deutsche “Referenzzentrum für Echtheit und Integrität in der Lebensmittelkette” beim Max Rubner-Institut in Karlsruhe begründet worden. Die Verbraucherschutzministerkonferenz der Bundesländer hat am 28. April 2017 noch einmal deutlich bekräftigt, Lebensmittelbetrug interdisziplinär mit Amtlicher Lebensmittelüberwachung, Staatsanwaltschaft, Polizei und Zoll energisch entgegenzutreten.

Gut so. Doch das wird nicht ganz reichen. Betrug ist ein krimineller Vorgang, der nur durch bewusstes Handeln des Täters ausgelöst wird. Ein richtig guter Betrug verlangt „Grips im Kopf“. Mit gleichen Mitteln müssen die Überwachungs- und Verfolgungsbehörden reagieren. Flächendeckende oder besser noch warengruppenorientierte Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die die Lebensmittelprozesse und nicht nur die Produkte kennen, sind nötig, um kriminellen Aktivitäten auf die Spur zu kommen. Doppelte Buchführung ist eines der Grundelemente des industriellen Betruges. Hier sollten sich die Behörden zumindest der Fachkompetenz des Zolls bedienen, besser aber noch der von Wirtschaftsprüfern oder Steuerfahndern. Ein industrielles Triumvirat aus einem Einkäufer, einem Controller und einem Geschäftsführer kann ein gesamtes Unternehmen mit Parallelprozessen von innen aushöhlen, ohne dass es jemand merkt – der nicht über ausgezeichnete Prozesskenntnisse verfügt.

Ja, und jetzt kommt noch einer ins Spiel, der zur Aufdeckung von kriminellen Aktivitäten maßgeblich beitragen kann. Nein, es ist nicht Kommissar Zufall, sondern der Whistleblower (Nöhle 2017), bzw. wie er im Art.140 der neuen KontrollV 2017/625 genannt wird, der Hinweisgeber. Der verfügt nämlich genau über die primären Prozesskenntnisse und genau über die Warenkunde, über die Spezifikationen, über die Maschinenabläufe und ggf. über die Buchführungsdetails, die sonst mühsam von den Behörden hinterfragt werden müssen. Insofern ist die Einrichtung von Hinweisgebersystemen gemäß Art. 140 wirklich einmal ein sehr innovatives Instrument der Amtlichen Kontrolle – und auch ein sehr zweischneidiges:

  • Berichtet der Hinweisgeber tatsächlich sachlich richtig über die Prozesse und interpretiert er das Ergebnis (also den evtl. Betrug) rechtssicher?

  • Berichtet der Hinweisgeber vorurteilsfrei oder will er seinem Chef einmal richtig „eins auswischen“?

  • Bleibt die Meldung wirklich vertraulich?

Wenn bekannt wird, wer da was gemeldet hat, war das mit Sicherheit der letzte Arbeitstag des Hinweisgebers, allein schon deshalb, weil er seine arbeitsvertraglichen oder dienstrechtlichen Pflichten vorsätzlich und zum unmittelbaren Schaden des Unternehmens bzw. seines Dienstherrn verletzt hat. Da hilft vermutlich auch kein Arbeitsgericht. Ein sogenannter Whistleblower-Schutz muss her, der letztere Nachteile für den Hinweisgeber verhindert. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn bereits seit drei Legislaturperioden wird in Ausschüssen des Bundestages beraten, wie ein Whistleblower-Schutzgesetz aussehen könnte – Einigung ausstehend (Deutscher Bundestag 2014).

In der Tat, Betrugsbekämpfung ist eine interdisziplinäre Aufgabe, die nur gemeinsam erreicht werden kann – im Lebensmittelbereich aber auch in allen anderen „Geschäftsbereichen“ menschlicher Handlungen (Nöhle 2016).