Mit Beginn der Nachkriegszeit stiegen Produktion und Effizienz von Lebensmitteln tierischen Ursprungs kontinuierlich an. Zusätzlich gab es am Ende des vergangenen Jahrhunderts eine wirksame Optimierung der Lebensmittelsicherheit und die zunehmende Bereitstellung von erschwinglichen, hochwertigen und gesundheitlich unbedenklichen Nahrungsmitteln für alle Bevölkerungsschichten. Aus Sicht der Tiere ist dies allerdings keine Erfolgsgeschichte. Denn die Erfüllung ihrer physischen Bedürfnisse bis zur Ausschöpfung ihrer Leistungsfähigkeit reicht nicht aus, um auch die mentalen und sozialen Bedürfnisse der Tier sicherzustellen. Heute sind wir nun, ohne uns einschränken zu müssen, wirtschaftlich in der Lage, und daher moralisch verpflichtet, uns auf die Verbesserung des Wohlergehens der Tiere zu konzentrieren. Dazu gehört, den Tieren vermeidbare Krankheiten und Schmerzen zu ersparen, ihre körperliche Integrität zu bewahren und ihnen Bedingungen für ihre natürlichen Verhaltensweisen zu gewährleisten.

In den entwickelten Ländern hat die intensive Nutztierhaltung einen Punkt erreicht, an dem man angesichts systemisch bedingter Tierschutzprobleme nicht mehr die Augen verschließen darf. Dabei sind die zum Teil eklatanten Defizite bei der Tiergesundheit wissenschaftlich eindeutig beschrieben. Die tatsächlichen Lebensbedingungen der Tiere unterscheiden sich nämlich je nach Betrieb erheblich. Manchen Landwirten gelingt es, trotz hoher Leistungsanforderungen an die Tiere, ein hohes Maß an Tiergesundheit zu erreichen. Andere Betriebe zeigen Mängel bei der Futterqualität, der Stallklimatisierung, der Hygiene und besonders bei der Tierbeobachtung und Betreuung – mit fatalen Folgen für das Tierwohl. Systemische Ursachen sind beispielsweise auch nicht-kurative Eingriffe wie das Schwänzekupieren beim Schwein oder das Schnäbelkürzen bei Legehennen – Haltungsbedingungen, die an eine hohe Produktionseffizienz angepasst sind anstatt an das Wohlbefinden der Tiere.

1 Nachhaltigkeit vs. Wettbewerbsdruck

Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) kam im Jahr 2015 in seinem GutachtenFootnote 1 folgerichtig zu dem Ergebnis, dass dieses System der Nutztierhaltung „nicht zukunftsfähig“ ist, weil es weder nachhaltig, noch gesellschaftlich akzeptiert ist. Es ist offensichtlich, dass die Lebensbedingungen sehr vieler Nutztiere gegen Artikel 20a des Grundgesetzes (Tierschutz als Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland) sowie Artikel 2 und 2a des Tierschutzgesetzes verstoßen. Diese Einschätzung teilen auch immer mehr Menschen bei Befragungen unserer demokratisch-pluralistischen, und zunehmend auf Kritik und Widerspruch orientierten Gesellschaft.

Gleichzeitig ist das System der heutigen Erzeugung tierischer Lebensmittel durch einen enormen Preis- und Wettbewerbsdruck gekennzeichnet, dem die Nutztiere und die tierhaltenden Landwirte de facto weitgehend unterliegen. Diese Situation wird maßgeblich durch die enorme Macht weniger Handelskonzerne und großer Verarbeiter ausgelöst. Diese bestimmen die Preise und Erlöse der Landwirte, die in der Regel nicht ausreichen, um mehr Tierwohl zu gewähren. Und sie nehmen damit einen massiven (negativen) Einfluss auf die Bedingungen, unter denen die Tiere leben müssen.

2 Probleme im „unteren“ Sektor

Wir wissen heute zwar immer mehr darüber, was Nutztiere an Haltungsbedingungen und Betreuungsqualität brauchen, um möglichst kostengünstig Lebensmittel zu produzieren und gleichzeitig auch ein „tierwürdiges“ Leben führen zu können. Was wir aber nicht wirklich wissen ist, wie sich Tierhaltungs- und Betreuungsverbesserungen, deren geschätzte jährliche Kosten laut BMEL-Gutachten bei 3 bis 5 Milliarden Euro liegen, bei der gegenwärtigen Kostenstruktur und Preisgestaltung in der Praxis umsetzen lassen.

Die Kennzeichnung höherpreisiger Lebensmittel tierischen Ursprungs aus besonders tierschutzgerechten Haltungen wird von Vielen als der Königsweg angesehen, weil dann der Verbraucher die Kosten für diese Haltungen übernimmt. Mittlerweile wissen wir aber, dass erforderliche Herkunftsnachweise für das „Labeln“ besonderer Haltungsformen nur bei nicht verarbeiteten Produkten, wie z.B. Tafeleiern, möglich ist. Zudem eignet sich ein freiwilliges Tierwohl-Label nicht, um Tierwohldefizite flächendeckend zu beseitigen. Nur ein kleiner Teil der Tiere könnte davon profitieren – die problemverursachenden Marktmechanismen blieben für das Gros der Tiere jedoch bestehen. Mehr noch: Ein freiwilliges Label vertieft die Ungleichbehandlung von Tieren eher, da nur diejenigen Landwirte mitmachen würden, die ihren Tieren ohnehin schon gute oder beste Haltungsbedingungen bieten. Und diejenigen Landwirte, die ihre Tiere unter suboptimalen Lebensbedingungen halten und betreuen, werden argumentieren, dass sie es nicht schaffen, die Label-Anforderungen zu erfüllen und nichts verändern beziehungsweise verbessern können. Aus ethischer Sicht ist deshalb der Weg des (privatwirtschaftlichen oder staatlichen) Tierwohl-Labels, zumindest zu hinterfragen. Und wenn man sich schon für diesen Weg entscheidet, dann sollte er der Privatwirtschaft überlassen werden, da es wirtschaftsfördernd ist, wenn man Landwirte mit guten Haltungsbedigungen dabei unterstützt, noch besser zu werden. Aus Sicht des Tierschutzes muss sich der Staat aber nicht um den qualitativ oberen Sektor, sondern den unteren Sektor der Tierhaltung kümmern, da die dortigen Tierschutzdefizite ohne staatlichen Nachdruck nicht abgebaut werden.

3 Fazit

Die Einführung von Tierwohl-Labeln ist kein Mittel, um ALLEN landwirtschaftlich genutzten Tieren bessere Lebensbedingungen zu gewährleisten. Das gilt vor allem für diejenigen Tiere, die unter suboptimalen Haltungs- und Betreuungsbedingungen leben. Stattdessen brauchen wir einen nationalen Aktionsplan, den alle Produzenten und Konsumenten von Lebensmitteln (Tierhalter, Lebensmittelerzeuger, Einzelhandel und Verbraucher) mittragen. Dieser Aktionsplan sollte zu einer sofort beginnenden Verbesserung der Lebensbedingungen ALLER zur Lebensmittelproduktion genutzten Tiere führen mit dem Ziel, diese schrittweise in einem mittel- bis langfristig Zeitrahmen von fünf bis 20 Jahren umzusetzen. In Angriff genommen werden müssen:

  • Tierschutzgerechte Haltungsbedingungen für alle Nutztiere: Stallgrößen, Stallböden, Auslaufmöglichkeiten, Herdengrößen, Besatzdichten, Klimabedingungen etc. müssen den Tieren angepasst werden, damit sie ihre arttypischen wesentlichen Verhaltensweisen ausüben und ohne Verhaltensstörungen und ohne Amputationen von Körperteilen leben können

  • Ein verpflichtendes aktives Gesundheitsmanagement für alle Nutztierbestände. Denn tiergerechte Haltungsbedingungen sind zwar notwendige, aber alleine unzureichende Voraussetzungen für eine tiergerechte Lebensmittelproduktion, für die eine optimale Tiergesundheit eine Grundvoraussetzung ist

  • Ein betriebliches Gesundheitsmonitoring. Denn für problemorientierte Beratungen und risikoorientierte Überwachungen der Betriebe müssen – anhand gesetzlich genau definierter Indikatoren – Krankheiten und Verhaltensauffälligkeiten dokumentiert und die tiergesundheitliche Qualität der Tierhaltung durch Betriebsvergleiche optimiert werden

  • Eine Ausbildung der Tierhalter und Tierbetreuer, die insbesondere das Tierverhalten und das Tierwohl berücksichtigt. Dokumentierte regelmäßige Fortbildungsmaßnahmen müssen verbindlich gemacht werden, ebenso wie eine ausreichende, an die Bestandsgröße angepasste personelle Ausstattung, um insbesondere die Sachkunde bei der tagtäglichen Tierbetreuung gewährleisten zu können.

Dabei sollte die Möglichkeit, mit Übergangszeiten noch einmal Zeit zu gewinnen, verhindert werden. Stattdessen müssen Zeithorizonte mit definierten Zwischenzielen, einschließlich der jeweiligen Finanzierungsmodelle, erarbeitet werden. Und die Ergebnisse müssen in Intervallen von ein bis zwei Jahren überprüft werden, um weitere Schritte eventuell anpassen zu können. Nur so kann der gewünschte Umbau bei der Tierhaltung – hin zu mehr Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Akzeptanz – gelingen. Denn die Landwirte können das, selbst bei noch so groß ausgeübtem Druck, alleine nicht leisten.