Zusammenfassung
Das Kapitel adressiert Erfahrungen von Geflüchteten hinsichtlich ihres Lebensalltags in ländlichen Regionen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als empirische Datengrundlage dienen partizipativ-orientierte, qualitative Interviews mit Geflüchteten und Fokusgruppengespräche. Fokussiert werden Exklusions- und Inklusionsprozesse in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit und Gesundheit.
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Schlüsselwörter
1 Einleitung
Um die Rolle von Geflüchteten als Akteur*innen von ländlicher Entwicklung besser verstehen zu können, müssen deren Teilhabe sowie Prozesse der Exklusion differenzierter betrachtet werden. Dabei sollte ein „Sprechen über“ vermieden und stattdessen eine Innenperspektive eingenommen werden, die die Lebenswelt der Geflüchteten, d. h. deren Erfahrungen an ländlichen Wohnorten, fokussiert. Zentral ist dabei folgende Frage: Welche Exklusions- und Inklusionserfahrungen machten und machen Geflüchtete in verschiedenen Bereichen des Lebensalltags und welche Bedeutung kommt Orten und deren Erreichbarkeit dabei zu? Dieses Kapitel analysiert dazu die Erfahrungen von überwiegend anerkannten Geflüchteten vor dem Hintergrund von strukturellen Rahmenbedingungen und individueller Handlungsbefähigung.
Fokussiert wird dabei die gleichberechtigte Teilhabe von Geflüchteten an zentralen gesellschaftlichen Bereichen im Sinne von Sozialintegration (Schammann und Gluns 2021). Konkret steht der Zugang und Nicht-Zugang zu integrationsrelevanten Dimensionen (Ager und Strang 2008, s. Kap. 1) im Mittelpunkt unserer Analysen. Der Zugang zu lokalen Ressourcen trägt, neben den Aspekten Sicherheit und Geborgenheit sowie der Möglichkeit, soziale Netzwerke zu bilden, maßgeblich zu sozialer Inklusion bei (Spicer 2008). Geflüchtete machen in ihrem Alltag jedoch auch vielfältige Erfahrungen von Exklusion, d. h., wenn sie einen in Relation zur Mehrheit der Bevölkerung schlechteren Zugang zu Wohnraum, Bildung, Arbeit und Gesundheit haben. Durch Erfahrungen von sozialräumlicher Exklusion und Inklusion über einen gewissen Zeitraum sammeln Geflüchtete Wissen über Orte und deren Zugänglichkeit (accessibility; Madanipour 1998; Cass et al. 2005) und konstruieren Orte damit auch als exkludierend oder inkludierend (Spicer 2008).
2 Theoretisch-konzeptionelle Grundlagen: Räumliche, zeitliche und soziale Beziehungen und die Bedeutung von Handlungsmacht (Agency)
Die Analyse von Erfahrungen von Geflüchteten in ländlichen Regionen basiert auf der Annahme, dass Subjekte soziale Wirklichkeit durch Handlungs- und Kommunikationsprozesse und deren Interpretation hervorbringen (Mattissek et al. 2013). Sozial konstruierte Realitäten sind durch selektive Erfahrungen des Individuums und dessen Interpretationen von Wirklichkeit in Form von Bedeutungszuschreibungen bestimmt. Letztere sind von besonderer Relevanz und werden aus der LebensweltFootnote 1 von Geflüchteten heraus ermittelt. Innerhalb der Lebenswelten von Geflüchteten werden insbesondere soziale Praktiken fokussiert. Diese werden als Alltagshandeln von Individuen verstanden, das stets in bestimmten Situationen, bei Ereignissen oder an Orten stattfindet. Die Analyse von Praktiken hilft zu verstehen, welche Bedeutung Individuen bestimmten Situationen, Ereignissen und Orten zuschreiben. Mit dem Einbezug von Praktiken aus der Vergangenheit können zudem Rückschlüsse auf Erfahrungen an anderen Orten gezogen werden (zeitliche und räumliche Relationalität).
Schließlich wird eine biographische Perspektive bei der Analyse eingenommen. Ausgehend von der Annahme, dass individuelle Lebenslagen dynamisch sind und unterschiedliche Phasen des Migrationsprozesses und der Ankunft in Deutschland unterschiedliche soziale und räumliche Praktiken hervorbringen, werden mehrere Zeitabschnitte in den Blick genommen: (1) die Vergangenheit, insbesondere die Ankunftszeit in Deutschland und die verschiedenen Wohnorte, an denen Geflüchtete bereits gelebt haben; (2) die Gegenwart mit dem Lebensalltag zum Zeitpunkt der Befragung und (3) die Zukunftsperspektiven auf dem Land.
Zusammenfassend beinhalten die Analyseperspektiven der empirischen Daten von Geflüchteten eine subjektzentrierte Perspektive, bei der das Individuum, seine sozialen Kontakte (insbesondere die Familie) und Handlungsmacht im Fokus stehen, eine biographische sowie eine räumliche (s. Abb. 3.1). Letztere umfassen die Bedeutungszuschreibung zu Orten und eine Bewertung von Orten.
Geflüchtete werden häufig als hilfebedürftig, defizitär und schließlich als passive Akteur*innen verstanden. Die Erlangung von Selbständigkeit/Selbstbestimmungsfähigkeit bzw. Handlungsmacht (Agency) ist demnach ein zentrales Schlüsselmoment im Leben von Geflüchteten und stellt nicht zuletzt aus integrationspolitischer/-praktischer Sicht ein relevantes Handlungsfeld dar (Geiger 2016). Die Agency-Perspektive auf Geflüchtete erfordert einen analytischen Zugang, der Geflüchtete als aktive Akteur*innen begreift, die in der Lage sind, ihr eigenes Lebensumfeld (mit) zu gestalten. Zeitlich und räumlich relational bewertete Erfahrungen von Agency sind dabei zentral, sowohl bewusstes „Anders-Handeln“ als auch das unbewusste Zurückgreifen auf Praktiken aus dem erlernten Repertoire müssen betrachtet werden. In der Analyse des empirischen Datenmaterials können Ausprägungen von Agency in drei Dimensionen erfasst werden: (1) sich bewusst werden über die eigene Handlungsmacht und darüber reflektieren, (2) Handlungsmacht in Alltagspraktiken umsetzen und (3) lokales Wissen und die lokale Ausgestaltung von Praktiken an andere Personen weitergeben (Spenger und Kordel 2022, im Erscheinen).
3 Methodik
Datengrundlage bilden qualitative Interviews mit Geflüchteten, in denen eine retrospektive Betrachtung der Wohnbiographien seit der Ankunft in Deutschland, eine Reflexion über den Lebensalltag am ländlichen Wohnort und ein Blick auf Ziele und Wünsche in der Zukunft vorgenommen wurden. Anschließend wurden in Fokusgruppengesprächen mit Geflüchteten offene Fragen aus den Interviews vertieft sowie Lösungsstrategien für bestimmte Lebenslagen und in bestimmten räumlichen Kontexten diskutiert.Footnote 2
3.1 Visuell gestützte, partizipative Interviews
Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Entscheidungen über den Wohnstandort und das Bleiben und Gehen von Geflüchteten relational ausgehandelt werden, d. h. basierend auf bereits gemachten Erfahrungen an anderen Orten, wurden in den Interviews zunächst Erfahrungen an allen bisherigen Wohnorten in Deutschland in Wohnbiographien erfasst (Teil A).Footnote 3 Daraus ließ sich rekonstruieren, wie Geflüchtete am aktuellen ländlichen Wohnstandort angekommen sind. Zudem wurden Exklusions- und Inklusionserfahrungen in den integrationsrelevanten Dimensionen identifiziert. Im Rahmen der qualitativen Interviews wurden Erzählungen generiert, die sich auf Alltagspraktiken in der Gegenwart beziehen. Um den Zugang der Individuen zu den oben genannten Dimensionen bewerten zu können, wurden individuell bedeutsame Orte und der (Nicht-)Zugang zu diesen durch die interviewte Person bewertet (Teil B, s. Abb. 3.2, weiße Karten stellen relevante, aufgesuchte Orte dar, rote, runde Karten Orte, die nicht aufgesucht werden können und rote, eckige Karten Orte, an denen Befragte sich unwohl fühlen)). Mit einer Diskussion über Wohnstandortmobilität oder -immobilität in der Zukunft wurden die Gespräche abgeschlossen (Teil C).
Zum Einsatz kamen sowohl ein zeitbezogenes, visuelles Erhebungsinstrument, die Timeline (s. Abb. 3.2, auch (Im-)Mobility Biography in Kieslinger et al. 2020), wie auch ein raumbezogenes Tool, die Mobility Map (s. Abb. 3.3, Kordel et al. 2018, 2021; Weidinger et al. 2021).Footnote 4
Prozesse der Datenerhebung und der Analyse fielen während des Gesprächs zusammen, indem Daten gemeinsam mit den Teilnehmenden interpretiert wurden. Dieser partizipative Charakter wurde auch dadurch unterstrichen, dass die grafischen Produkte, die bei den Gesprächen erstellt wurden, bei den Teilnehmenden verblieben und nur in digitaler Form für die weitere Bearbeitung genutzt wurden. Die Gespräche wurden nach vorheriger Zustimmung aufgezeichnet, Interviewer*innen erstellten zudem ein Protokoll und reflektierten darin über die Rahmenbedingungen des Gesprächs.
3.2 Fokusgruppen
Fokusgruppengespräche mit Geflüchteten thematisierten lokal-regional relevante Themen aus der Lebenswelt der Geflüchteten heraus. Vorgesehen waren je zwei Fokusgruppen pro Landkreis in den Themenfeldern (1) Wohlbefinden – Sozialleben – Gesundheit und (2) Bildung – Aus-/Weiterbildung – Arbeit. Neben der Identifikation von Herausforderungen und den dazugehörigen Lösungsstrategien, die Geflüchtete entwickelt haben und ihre Handlungsmacht unterstreichen (Agency), sollten am Ende noch Hinweise auf die Bleibeorientierung abgeleitet werden. Im Themenfeld Wohlbefinden – Sozialleben – Gesundheit wurde adressiert, was Geflüchtete unter Wohlbefinden, also „gut leben und sich wohl fühlen in XYZ“, verstehen. Im Themenfeld Bildung – Aus-/Weiterbildung – Arbeit wurden Rahmenbedingungen und Praktiken des Spracherwerbs, der Weiterqualifizierung und des Arbeitsmarktzugangs angesprochen. Von besonderem Interesse war, je nach regionalem Kontext, auch, wie nachhaltige Arbeitsmarktintegration erreicht werden kann und welche Wechselwirkungen dies mit anderen Lebensbereichen hat.
Die Fokusgruppen wurden ebenfalls aufgezeichnet. Verlaufsprotokolle wurden im Anschluss durch Nachhören der Audio-Aufzeichnung ergänzt. Die zusammengefassten Aspekte auf Flipcharts (im digitalen Modus als PowerPoint-Folien) dienten als Ergebnisprotokoll.
3.3 Zugang
Die Fallauswahl für die Interviews erfolgte im Zusammenspiel von statistischen Daten und Hintergrundgesprächen auf regionaler und lokaler Ebene. Interviewt wurden Personen der zwei bis vier häufigsten Nationalitäten und Personen mit Schutzstatus aus Asylherkunftsländern, die mindestens sechs Monate am aktuellen Wohnort und maximal fünf Jahre in Deutschland lebten, wobei in begründeten Fällen vom Kriterium häufigste Nationalitäten, Schutzstatus sowie Aufenthaltsdauer abgewichen wurde. Bei der Auswahl berücksichtigt werden sollten, je nach Situation in den Untersuchungslandkreisen, Alter, Gender, Bildungsstand, familiäre Situation (Single/alleinstehend, kinderloses Paar, Familie mit Kindern) und Wohnsituation (staatliche Unterkunft, private Wohnung). Grundlage der Stichprobenziehung war ein möglichst breiter Feldzugang, der erreicht wurde durch eine Akquise von Teilnehmenden mit Hilfe von
-
(1)
Gatekeepern, also Personen und Institutionen, die vor Ort mit Geflüchteten arbeiten (Asyl-/Flüchtlingshelferkreise, NGOs, sonstige Schlüsselpersonen) oder selbst nach Deutschland flüchteten;
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(2)
kalter Akquise, z. B. bei/nach Sprach-/Integrationskursveranstaltungen, vor migrantischen Ökonomien, bei Migrationsberatungsstellen, bei interkulturellen Treffen oder Asylcafés;
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(3)
Schneeballverfahren (snowball sampling), das heißt basierend auf Empfehlungen von bereits interviewten Personen.Footnote 5
Sobald Interviewpersonen identifiziert waren, fanden sogenannte Icebreaker-Treffen statt. Dabei informierten die Interviewenden über das Projekt (Ziele, finanzielle Förderung) und gaben die Gelegenheit für Nachfragen, wodurch eine vertrauensvolle Atmosphäre geschaffen wurde. Zudem boten die Treffen die Gelegenheit, die Nutzung von Voice-Recordern zu erklären und das Einverständnis zur Datennutzung einzuholen. Während des Treffens wurde darüber hinaus der Ablauf des Interviews erklärt und gemeinsam ein geeigneter Ort sowie ein passender Zeitpunkt identifiziert. Schließlich bot das Treffen auch die Möglichkeit, Erkenntnisse über die Lebenssituation der Interviewten, z. B. Familien- bzw. Wohnsituation, Bildungsstand etc. zu erlangen.
4 Stichprobe
Es wurden insgesamt 139 Interviews mit 192 Personen mit einer Dauer zwischen 60 und 235 Minuten durchgeführt. Teilnehmende kamen vorwiegend aus Syrien (108), Afghanistan (22), Irak (19) und Eritrea (zwölf), in geringerem Ausmaß waren es auch staatenlose Palästinenser*innen sowie Personen aus dem Iran. Die Nationalitäten spiegeln die regional in den Landkreisen vorherrschende Struktur wider: Während in den bayerischen Landkreisen Syrer*innen und Iraker*innen sowie in deutlich geringerer Zahl Eritreer*innen dominierten, waren in Hessen relativ mehr afghanische Staatsbürger*innen Bestandteil der Stichprobe, in Niedersachsen und Sachsen auch Iraner*innen. Die interviewten Geflüchteten waren durchschnittlich 34,9 Jahre alt.
Das Ziel, vorwiegend Geflüchtete mit einem relativ sicheren, rechtlichen Aufenthaltsstatus zu befragen, konnte weitgehend erreicht werden. So umfasst die Stichprobe 162 Personen mit anerkanntem Schutzstatus, 25 Personen ohne Schutzstatus (offener bzw. abgelehnter Schutzstatus, z. B. Personen mit Aufenthaltsgestattung, mit Duldung oder im Widerspruchsverfahren) und fünf Personen mit unbekanntem Schutzstatus. Auch hier sind regionale Besonderheiten zu erwähnen. Während in Bayern ausschließlich Personen mit Schutzstatus interviewt wurden, war dies in Niedersachsen und vor allem in Sachsen, hier im Landkreis Bautzen, häufiger nicht der Fall. Bereits in Vorgesprächen mit Sozialarbeiter*innen zeichnete sich ab, dass viele Personen mit Aufenthaltstitel aus den dortigen Untersuchungskommunen verzogen waren. Zudem war der Aufenthaltsstatus den Gatekeepern oftmals nicht bekannt. In den sächsischen Landkreisen konnten zudem wesentlich weniger Interviews (28 statt 40) geführt werden und die Gespräche hatten eine kürzere Dauer (s. online verfügbare Tabelle „Sample Narrative Interviews mit Geflüchteten“).Footnote 6 Während die (Erst-)Kontaktaufnahme über Ehrenamtliche in allen anderen Landkreisen meist sehr erfolgreich war, war dies in Nordsachsen und Bautzen nicht der Fall. Auch wenn das Sample ausgewogen in Bezug auf die Zusammensetzung erscheint, konnte eine Sättigung dort nicht erreicht werden.
Zudem wurden insgesamt zehn Fokusgruppen (davon drei online) mit insgesamt 50 Personen mit einer Dauer zwischen 81 und 146 Minuten von den jeweiligen Regionalverantwortlichen durchgeführt (s. online verfügbare Tabelle „Fokusgruppen mit Geflüchteten“).Footnote 7 Die Gruppen wurden zum einen durch Interviewende und Dolmetschende oder durch haupt- und ehrenamtliche Dritte zusammengestellt. Zum anderen wurde auf bestehende Gruppen zurückgegriffen, etwa im Fall von (Berufs-)Schulklassen oder von ehrenamtlich aktiven Geflüchteten. Während an der Fokusgruppe im Werra-Meißner-Kreis nur Frauen teilnahmen, waren alle weiteren Gespräche gemischtgeschlechtlich besetzt. In Hessen konnten nur zwei von vier anvisierten Fokusgruppen durchgeführt werden. Dies lag daran, dass zentrale Schlüsselakteur*innen pandemiebedingt anderweitig stark eingebunden und Kontakte zu Geflüchteten schwer zu realisieren waren. In Sachsen konnte aus den gleichen Gründen keine Fokusgruppe realisiert werden.
5 Auswertung der Daten
Um die narrativen Interviews mit Geflüchteten dauerhaft für wissenschaftliche Analysen verfügbar zu machen, wurden die Audio-Aufzeichnungen vollständig und in deutscher SpracheFootnote 8 transkribiert (Kowall und O’Connell 2010), grafische Produkte wurden zur weiteren Bearbeitung digitalisiert. Ein wichtiger Bestandteil der Datenaufbereitung lag in der Überprüfung (cross-checking) von Transkripten durch Co-Forschende. Aus den Verlaufs- und Ergebnisprotokollen der Fokusgruppen wurden zentrale inhaltliche Aussagen identifiziert.
Interviews mit Geflüchteten wurden mit Hilfe eines Codesystems ausgewertet, wobei Codes zum einen a priori in deduktiver Weise gebildet, zum anderen induktiv aus dem zu analysierenden Text gewonnen wurden. Damit wurde die Codebildung flexibilisiert und dem Erkenntnisinteresse angepasst. Um Reliabilität zu gewährleisten, wurde zur Annäherung an Interkoder-Reliabilität zu Beginn des Kodierprozesses ein Konsens über die nähere Beschreibung von Codes erzielt und festgehalten. Das Codebuch beinhaltet schließlich inhaltliche Dimensionen, die den Integrationsdimensionen folgen, die Codegruppe Agency, relationale Beschreibungen und zeitliche Einordnungen sowie weitere Aspekte wie lokal-regionales Wissen oder Wertungen.
Eine Besonderheit der narrativen Interviews mit Geflüchteten lag in deren visuell-partizipativem Charakter und der daraus resultierenden Tatsache, dass Primärdaten in Form von Transkripten und grafischen Darstellungen vorliegen. Daten wurden in einer Kombination aus thematischer und visueller Analyse (Kohler Riessman 2005) analysiert, hinsichtlich der grafischen Produkte (Timelines und Mobility Maps) wurden der Zeichen- und Erzählprozess trianguliert (Lutz et al. 2003). Text und Bild wurden gegenseitig validiert und anschließend mit Hilfe desselben Code-Systems codiert.
Die Auswertung wurde softwaregestützt durchgeführt. Für die Analyse wurden für jeden inhaltlichen Aspekt zunächst sogenannte Code-Kookkurrenzen identifiziert, also Häufigkeiten, wie oft ein Code gemeinsam mit einem anderen auftritt. Diese Vorgehensweise kann erste Hinweise darauf geben, ob inhaltliche Zusammenhänge bestehen und für Themen sensibilisieren, die die Forschenden andernfalls nicht bemerkt hätten. Anschließend wurden für jede Integrationsdimension Code-Kombinationen analysiert.
6 Ergebnisse
6.1 Bedeutungszuschreibungen zu Orten
Das Wissen darüber, welche Orte warum im Lebensalltag von Geflüchteten wichtig sind, hilft dabei, Lebenswelten zu verstehen. Im Rahmen des Mobility Mapping wurden Geflüchtete resümierend nach dem wichtigsten Ort im Lebensalltag gefragt. Im Folgenden sind Nennungen von Orten dargestellt, die von Geflüchteten als am wichtigsten genannt wurden (s. Abb. 3.4).
Orte, an denen soziale Interaktionen stattfinden, werden von Geflüchteten am häufigsten als wichtigster Ort bezeichnet. An diesen öffentlichen und privaten Orten, wie zum Beispiel Park oder Stadtplatz bzw. Privatwohnungen, werden soziale Kontakte zur eigenen, migrantischen Community, vor allem Mitgliedern der Familie, und, in geringerem Ausmaß, zur Lokalbevölkerung gepflegt. Des Weiteren sind Orte der Bildung (35 Nennungen), vor allem Schulen und Sprachkurse sowie Kinderbetreuungseinrichtungen genannt, wobei diese nicht ausschließlich von den interviewten Geflüchteten, sondern auch von deren Kindern aufgesucht werden. Es folgen Orte, an denen sich Geflüchtete mit Gütern des täglichen Bedarfs, vereinzelt auch mit Kleidung, versorgen (29 Nennungen). Orte der Freizeit umfassen öffentliche Plätze, an denen Geflüchtete sportlichen Betätigungen oder geselligen Aktivitäten nachgehen, sowie Vereine. Darüber hinaus wird von der eigenen Wohnung als wichtigster Ort berichtet, da diese einen geschützten Raum darstellt und mit freiem Leben verbunden wird. Weniger häufig als wichtigster Ort genannt werden Orte der Ausübung religiöser oder kultureller Praktiken (acht Nennungen) oder der Gesundheit (sechs Nennungen) sowie Behörden (sechs Nennungen). Die Ergebnisse zeigen, dass besonders bedeutsame Orte im Alltagsleben von Geflüchteten mit den Integrationsdimensionen nach Ager und Strang (2008) übereinstimmen. Daraus kann geschlossen werden, dass sich Orte der Integration, die als räumlich verankerte Gelegenheiten für Integration verstanden werden können, in der Lebenswelt von Geflüchteten alltäglich auftun. Diese müssen nicht zwangsläufig institutionalisiert oder formalisiert sein und bieten so die Möglichkeit von gleichberechtigter Teilhabe en passant.
6.2 Wohnen
Durchschnittlich 207 Tage nach der Ankunft in Deutschland ziehen befragte Geflüchtete in die erste private Wohnung. Der Einzug in eine eigene Wohnung stellt für viele Geflüchtete nach zahlreichen unfreiwilligen Umverteilungen und Umzügen, vor allem während des Asylverfahrens, ein bedeutendes Lebensereignis dar. Der Zugang zu Wohnraum in ländlichen Regionen weist aufgrund struktureller Spezifika und persönlicher Konstellationen der Geflüchteten aber einige Besonderheiten auf (s. Weidinger et al. 2017; Weidinger und Kordel 2020). Die Erfahrungen der Geflüchteten werden im Folgenden skizziert. Anschließend wird der Status quo der Wohnsituation dargestellt.
6.2.1 Zugang zu Wohnraum
Verschiedene Akteur*innen nehmen beim Zugang Geflüchteter zu privatem Wohnraum jeweils unterschiedliche Positionen und Rollen – positive wie negative – ein. Geflüchtete berichten zunächst über Vermieter*innen und machen die Erfahrung, dass diese oft eine ablehnende Haltung gegenüber bestimmten Gruppen einnehmen, wobei Geflüchtete meist verschiedene Diskriminierungskategorien erfüllen (Stichwort Intersektionalität; Crenshaw 2017; s. Kap. 8). So finden sich Aussagen dazu, dass Vermieter*innen nicht an Ausländer*innen im Allgemeinen und Geflüchtete im Speziellen, People of Colour sowie große Familien vermieten wollen. Personen in Arbeitsverhältnissen werden zudem Kund*innen des Jobcenters vorgezogen (s. Ergebnisse von Shandy und Fennelly 2006; Correa-Velez et al. 2013; s. Kap. 4).
Die Rollen von Behörden und staatlichen Institutionen werden unterschiedlich bewertet. Auszugsaufforderungen der Regierungen bzw. Kreisverwaltungsbehörden als Unterkunftsbetreiberinnen führen zu Unsicherheit und der Notwendigkeit, unter großem Zeitdruck Wohnraum zu finden. Andererseits berichten Geflüchtete auch davon, dass hauptamtliche Stellen im lokalen Sozial- oder Einwohnermeldeamt sowie Wohnungsgenossenschaften ihnen konkrete Wohnungen vorschlagen oder die Jobcenter sie bei der Finanzierung der Möbel unterstützen. Konkrete Hilfe bei der Wohnungssuche erhalten sie darüber hinaus von der freien Wohlfahrtspflege, z. B. von Integrationsberatungsstellen. Ehrenamtliche wiederum würden nicht nur geeignete Wohnungen identifizieren, Vermieter*innen telefonisch kontaktieren und Interviewte zu Besichtigungsterminen begleiten, sondern auch Hilfe bei der Möblierung der Wohnung leisten (Weidinger und Kordel 2020; s. Ergebnisse von Major et al. 2013; s. Kap. 4).
6.2.2 Agency
Mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Deutschland eignen sich Geflüchtete detailliertes Wissen über lokal-regionale Wohnungsmärkte in ländlichen Regionen an. Sie machen sich bewusst, dass es grundsätzlich schwierig ist, Wohnungen für viele Personen zu finden, dies in kleinen Dörfern aber leichter möglich ist. Ländliche und städtische Wohnungsmärkte werden von ihnen zudem räumlich relational betrachtet: So seien Wohnungen in Kleinstädten günstiger und qualitativ besser als in Großstädten (s. Ergebnisse von Shandy und Fennelly 2006).
Daneben erwerben Geflüchtete mit der Zeit mehr Wissen über den Wohnungsmarktzugang. In der Folge suchen sie sowohl an Schwarzen Brettern als auch online nach Wohnungsanzeigen. Sie machen sich zudem bewusst, dass man als Geflüchteter auf gut vernetzte Bekannte angewiesen ist. Während Einige Makler*innen und Banken aufsuchen, setzen Andere gezielt ihre sozialen Netzwerke in Wert, seien dies Freund*innen, Familienangehörige oder aber andere Geflüchtete. Schließlich trägt auch der Erwerb sprachlicher Fähigkeiten zu einer größeren Handlungsmacht bei. So können Geflüchtete dadurch selbst Wohnungsannoncen lesen und Vermieter*innen bei selbst getätigten Anrufen ihre Sprachfähigkeit und damit auch ihre Selbständigkeit unter Beweis stellen.
Nachdem der Zugang zum Wohnungsmarkt erfolgreich war, streben Geflüchtete an, von Nachbar*innen bzw. der Hausgemeinschaft akzeptiert zu werden (Glorius et al. 2020). Dies setzt aus Sicht der Interviewten ein „richtiges“ Verhalten als Mieter*in voraus. Daher versuchen Interviewte, sich an die in der Hausordnung festgehaltenen Regeln zu halten und beispielsweise den Putzplan zu befolgen (s. Ergebnisse von Larsen 2011).
6.2.3 Wohnsituation
Über Erfahrungen zur aktuellen Wohnsituation berichten Geflüchtete vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen in Sammelunterkünften, wie beispielsweise fehlender Privatsphäre oder räumlicher Enge.Footnote 9
Hinsichtlich der Lage der aktuellen, privaten Wohnung bewerten Geflüchtete einerseits die räumliche Nähe zu unterschiedlichen Infrastrukturen wie etwa Supermärkten und Geschäften, Sprachkursträgern oder Schulen der Kinder, Arbeitsplätzen sowie zu Ärzt*innen positiv. Daneben würde der Wohnort auch schöne Plätze zum Spazierengehen bieten und ruhig sein. Andererseits finden sich in den Interviews auch kritische Sichtweisen auf die Lage der Wohnung, insbesondere aufgrund großer Entfernungen zu wichtigen Infrastrukturen im Lebensalltag. In die Evaluierung beziehen Geflüchtete dabei insbesondere auch die ÖPNV-Anbindung mit ein.
Hinsichtlich der Wohnqualität finden sich in den Interviews sowohl positive als auch negative Aussagen. Positiv sehen Interviewte es, wenn die private Wohnung ausreichend Platz für eigene Zimmer der Kinder bietet, negativ, wenn dies nicht gewährleistet ist (Weidinger und Kordel 2020). Neben der Größe werden in den Interviews auch Ausführungen zur Ausstattung und Qualität der Wohnungen gemacht. Geflüchtete berichten über nicht funktionierende Heizungen und daraus resultierender Schimmelbildung oder das kostspielige Heizen einer alten Wohnung mit Holz (s. Ergebnisse von Scheibelhofer und Luimpöck 2016). Andere Geflüchtete hingegen äußern den Wunsch, die von der Kommune gestellten Möbel durch eigene Möbel zu ersetzen.
In Bezug auf die soziale Wohnqualität werden die positiven Beziehungen zu Nachbar*innen und Vermieter*innen hervorgehoben und zeitlich relational, d. h. im Vergleich zu früheren Wohnorten, bewertet. Im räumlichen Vergleich, vor allem zwischen Stadt und Land, verweisen Geflüchtete beispielsweise auf die Anonymität in Städten. Positive Erfahrungen mit Nachbar*innen und Vermieter*innen vor Ort resultieren vor allem aus oberflächlichen Kontakten, z. B. gegenseitigem Grüßen im Treppenhaus, und gegenseitigen Besuchen, z. B. zum Kaffeetrinken. Diese dienen dem Erwerb von lokal-regionalem Wissen und umfassen gegenseitige Hilfe, etwa bei der Kinderbetreuung.
Andererseits berichten einzelne Geflüchtete auch über Probleme mit Nachbar*innen und Vermieter*innen, beispielsweise aufgrund von Kinderlärm (D_VII_FOK_2), Ausländerfeindlichkeit (D_VII_FOK_2) oder YezidophobieFootnote 10 (D_VIII_FOK_2). Dies führt sowohl zu gänzlich fehlenden sozialen Interaktionen, als auch zu paternalistischem oder aggressivem Verhalten und tätlichen Angriffen (D_VII_FOK_2; D_VIII_FOK_2; s. Kap. 8).
6.3 Bildung und Sprache
Geflüchtete reflektieren intensiv über die Rolle von Sprachkenntnissen als Voraussetzung für Teilhabe und sind sich bewusst, dass gute Sprachkenntnisse zentral für den Zugang zu unterschiedlichen Integrationsdimensionen und zur Erlangung von Selbständigkeit sind. Daneben erleichtern sie den Aufbau sozialer Kontakte zur Lokalbevölkerung im Wohnumfeld. Fehlende Sprachkenntnisse werden hingegen häufig mit einem Gefühl der Abhängigkeit, Orientierungslosigkeit und Unsicherheit bis hin zu Einsamkeit in Verbindung gebracht. Im Zeitverlauf nach der Ankunft in Deutschland zeigt sich eine positive Entwicklung, da durch die Interaktion mit der lokalen Bevölkerung anfängliche Unsicherheiten verringert werden.
Ist jetzt denk ich anders, weil das nicht peinlich ist, man muss sich halt äußern und dann/aber naja am Anfang war das halt so, da hab ich mich nicht so viel gemeldet, hab nicht so viel geredet, war einsam, wie gesagt, aber [überlegt] naja aber kennengelernt hab ich viele Leute, auch deutsche Leute, ne. Wir gingen zu Partys, Kirmes und so weiter, feiern zusammen und so weiter. (Staatenloser, 30–40 Jahre, C_VI_GEF_092)
Geflüchtete betonen aber nicht nur die Bedeutung von Sprachkenntnissen aus der eigenen Perspektive, sondern verweisen auch auf eine angenommene Erwartungshaltung innerhalb der Aufnahmegesellschaft, dass Geflüchtete die deutsche Sprache rasch beherrschen sollen. Vereinzelt wird dieser Umstand im Speziellen für das Leben auf dem Land festgestellt und in Abgrenzung zu Ballungsräumen gesehen.
6.3.1 Zugang zu Bildung
Der Beginn oder der erfolgreiche Abschluss eines Sprachkurses wird von Geflüchteten häufig als bedeutendes Lebensereignis markiert. Die strukturellen Gegebenheiten im Bereich Bildung werden zunächst in Bezug auf den eigenen Sprachkursbesuch oder denjenigen von Familienmitgliedern als positiv bewertet. Besonders hervorgehoben wird die Bedeutung des Schulbesuchs der eigenen Kinder und die Verfügbarkeit eines Kindergartenplatzes (zu frühkindlicher Bildung, s. Kap. 4). Eine geringe Entfernung zu den entsprechenden Einrichtungen, ein Angebot von Sprachkursen mit Kinderbetreuung sowie die finanzielle Förderung des Deutschkursbesuchs werden wertgeschätzt. Der Spracherwerb gilt aus Sicht der Geflüchteten meist als Zwischenschritt, um weiterführende Bildungsziele zu erreichen.
Ich hoffe, nachdem ich das Baby bekommen habe, dass ich wieder in einen Deutschkurs gehen kann und weiter die Sprache lernen kann. In Syrien habe ich gar keine Schule besucht, ich kann weder lesen noch schreiben. Ich würde gerne einen Deutschkurs besuchen, um zu lernen und auf der Straße klar zu kommen. (Syrerin, 30–40 Jahre, B_IV_GEF_062)
Das Zitat zeigt außerdem, dass der Zugang zum Spracherwerb die Selbständigkeit im Alltag fördern und die individuelle Unabhängigkeit, insbesondere bei geflüchteten Frauen, steigern kann. Bildungsbiographien sind zudem eng mit Familiensituation und -planung verknüpft.
Soziale Kontakte können den Zugang zu Bildung in vielfältiger Weise unterstützen oder ermöglichen. Vordergründig wurde die Bedeutung von ehrenamtlich organisierten Sprachkursen genannt, welche vor Ort (auch in staatlichen Unterkünften) angeboten werden. Zudem kommen Ehrenamtliche auch zu Geflüchteten nach Hause, teilen Informationen über lokalspezifische Bildungsangebote, unterstützen bei benötigter Hilfe während der Berufsausbildung oder organisieren Fahrdienste zu bestehenden Sprachkursen. Daneben lernen Geflüchtete die Sprache auch eigeninitiativ, z. B. durch das Schauen von Lernvideos oder Filmen auf Deutsch oder mit Hilfe sozialer Kontakte.
6.3.2 Nicht-Zugang zu Bildung
Neben den positiven Aspekten des Zugangs zu Bildung sehen sich Geflüchtete aber auch mit verschiedenen Formen des Nicht-Zugangs konfrontiert. Diese liegen zunächst in den strukturellen Rahmenbedingungen begründet. So wird eine Sprachkursteilnahme erschwert durch rechtliche Hürden, lange Wartezeiten (auch bei Kurswiederholungen) oder eine schlechte Erreichbarkeit aufgrund von langen Fahrtzeiten in Klein- oder Mittelstädte bzw. hohen Ticketpreisen (s. Ergebnisse von Correa-Velez et al. 2013; Bose 2014). Letztere beeinträchtigen häufig die Vereinbarkeit von familiären Verpflichtungen (wie z. B. Kinderbetreuung) und dem Sprachkursbesuch. Bemängelt wird von Geflüchteten eine nicht ausreichende Anzahl an Kindergartenplätzen in Wohnortnähe (s. Kap. 4), eine häufige Abwesenheit von Lehrenden, das Fehlen von weiterführenden Sprachkursen vor Ort, das Fehlen von sprachunterstützenden Angeboten im Schulalltag von Kindern oder das Ausbleiben der Finanzierung von ausbildungsbegleitenden Hilfen.
Geflüchtete berichten außerdem, dass die Sprachkurs- bzw. Bildungsangebote auf dem Land oftmals nicht zu den eigenen Vorstellungen oder Qualifikationen passen. So können im Herkunftsland erworbene Bildungsabschlüsse aufgrund fehlender Anerkennung, fehlender weiterführender Sprachkurse oder der Unmöglichkeit des Nachweises von Berufserfahrungen nicht eingesetzt werden (s. Ergebnisse von Ziersch 2018). Die Erreichung eigener Karriereziele wird darüber hinaus aufgrund von Priorisierungen von Jobcentern (v. a. Vorrang von Sprachkursen oder Besetzung von Mangelberufen) verhindert. Einzelne Personen berichteten aus Altersgründen oder aufgrund von fehlender Alphabetisierung zudem von Überforderung.
In ländlichen Regionen sehen Geflüchteten in Bezug auf Sprachpraxis die Herausforderung, dass soziale Kontakte in der Schule und vor Ort fehlen und bewerten dies als Hemmnis für den Spracherwerb (s. Ergebnisse von Colvin 2017).
Und es gibt keinen Kontakt mit Menschen, durch die ich meine Deutschkenntnisse verbessern kann. (…) Zum Beispiel ich habe viel gelernt zuerst, aber ohne Kontakt vergesse ich immer schnell. Ich verstehe jetzt viel und mehr als ich sprechen kann. Ohne Kontakt was machen wir? (Syrer, 20–30 Jahre, C_V_GEF_072)
6.4 Arbeit
Geflüchtete schreiben Arbeit unterschiedliche Bedeutungen für ihren Lebensalltag und verschiedene Funktionen für das Ankommen in Deutschland und das Erlangen von Selbständigkeit zu. Von großer Relevanz ist finanzielle Unabhängigkeit oder die Freiheit in Bezug auf Bewegung und Mobilität. So berichten Geflüchtete häufig davon, danach zu streben, von Sozialleistungen unabhängig werden zu wollen, da sie damit Sanktionsdruck vermeiden können. Die Finanzierung konkreter Dinge, die durch die Arbeitsaufnahme ermöglicht wird, weist dabei meist in die Zukunft. Beispiele sind Ausgaben für Fahrschule und Führerschein zur Realisierung von Individualmobilität, für eine bessere Wohnung oder Wohnungseinrichtung oder für Weiterbildungsangebote, die dabei helfen, berufliche Qualifikationen aus dem Herkunftsland nachzuweisen. Auch trägt die Arbeitsaufnahme dazu bei, Geld an Familienmitglieder zu schicken oder Besuche von Verwandten zu realisieren. Die Unabhängigkeit von Sozialleistungen kann schließlich zur Beendigung der Wohnsitzauflage führen und ermöglicht eine freiere Wohnstandortwahl. Für diejenigen mit Partner*in und Kindern in Herkunfts- oder Transitländern kann der Verdienst durch Arbeit die Realisierung des Familiennachzugs erleichtern. Neben finanziellen und rechtlichen Funktionen hat die Arbeitsaufnahme aber auch soziale Bedeutungen. Geflüchtete berichten von Sinnstiftung, Struktur und Abwechslung. Darüber hinaus stellt der Arbeitsplatz einen Ort dar, an dem soziale Kontakte intensiviert und Sprachkenntnisse durch Sprachpraxis erweitert werden können. Hinzu kommt das Ziel, durch die Arbeitskraft, aber auch durch die damit verbundenen Steuerbeiträge, der Gesellschaft etwas zurückzugeben und Dankbarkeit zu zeigen – auch in die Zukunft projiziert.
Aber Deutschland hat mir schon so viel gegeben und dann hab ich ja jetzt schon Geld vom Jobcenter bekommen und das wäre nur fair, dass ich halt in Deutschland arbeite und dann Steuern zahle, damit ich denen was zurückgebe. (Afghane, 30–40 Jahre, C_VI_GEF_084)
Auch das Streben nach beruflicher Selbständigkeit weist auf ein starkes Interesse an einem selbstbestimmten Arbeitsleben hin. In einigen Kommunen in den Untersuchungslandkreisen gründen Migrant*innen mit Fluchthintergrund Lebensmittelgeschäfte, vorwiegend in den Ortskernen.
6.4.1 Zugang zum Arbeitsmarkt
Eine Vielzahl von (nicht-)staatlichen Institutionen und Schlüsselpersonen sind für den Zugang von Geflüchteten zum Arbeitsmarkt relevant. Zunächst sind das Jobcenter des jeweiligen Landkreises und die zuständigen Arbeitsagenturen zu nennen. Geflüchtete berichten von finanziellen und beratenden Unterstützungsleistungen, die dazu beitragen, rechtliche Hürden, z. B. die Anerkennung von Qualifikationen, zu beseitigen oder die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes zu verbessern, z. B. durch Finanzierung eines Führerscheins (s. Kap. 4). Des Weiteren werden weiterführende Sprachkurse finanziert. In gleichem Umfang berichten Geflüchtete, dass ihnen diese Unterstützungen aus nicht genannten Gründen verwehrt bleiben. Weitere wichtige Akteur*innen stellen Lehrer*innen und ehrenamtlich tätige Personen dar. Sie unterstützen bei Bewerbungen oder vermitteln Praktika. Ihre Funktion besteht aus Sicht der Geflüchteten auch darin, dazu zu ermuntern, den eingeschlagenen Weg durchzuhalten und eine begonnene Schulausbildung abzuschließen, um anschließend Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten. Darüber hinaus sind Netzwerke in der migrantischen Community wichtig (s. Ergebnisse von Ziersch 2018). Arbeit wird gezielt an andere Geflüchtete vermittelt und Unternehmen werden weiterempfohlen. Aus der Einbindung in Familienstrukturen lassen sich schließlich ebenfalls Wechselwirkungen zum Arbeitsmarktzugang ableiten. Familiäre Verpflichtungen schränken häufig den Zugang zu einem Praktikum oder einem Arbeitsplatz ein. Schwangerschaften und die Notwendigkeit der Kinderbetreuung wurden als Hindernis identifiziert (für verschiedene Formen von Diskriminierungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt, s. Kap. 8).
6.4.2 Agency
Eine Reflexion über die eigene Handlungsmacht hinsichtlich des Arbeitsmarktzugangs findet in erster Linie in Bezug auf die Rolle von Sprache statt. Die Erkenntnis, dass Sprachkenntnisse eine notwendige Bedingung für die Aufnahme einer Arbeit oder einer Ausbildung, aber auch eines Praktikums darstellen, ist weit verbreitet. Geflüchtete kennen zudem die Funktionen von Praktika: Sie dienen dazu, sich am Arbeitsmarkt zu orientieren, soziale Kontakte zu etablieren und Sprachpraxis zu erwerben. Sie lernen auch die lokalen Arbeitsmarktstrukturen kennen und wissen z. B., dass es grundsätzlich schwieriger ist, in ländlichen Regionen Arbeit zu finden, insbesondere für Frauen, oder dass Arbeitsplatzangebote saisonal und weniger stark diversifiziert sind.
Die eigene Handlungsmacht im Bereich Arbeitsmarktzugang zeigt sich, wenn Geflüchtete darüber reflektieren, was für ihre Lebenslage am besten passt: Arbeitsbeginn oder weiterführender Sprachkurs, Ausbildung oder Studium, oder sich dazu zu entscheiden, mittelfristig Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, indem sie das Arbeitsverhältnis bei einer Leiharbeitsfirma zugunsten eines Ausbildungsplatzes beenden. Darüber hinaus nutzen sie die ihnen mögliche Handlungsmacht, indem sie selbständig Praktika, Arbeit oder Weiterbildungsmöglichkeiten suchen oder Initiativbewerbungen bei lokalen Unternehmen am Wohnort abgeben. Schließlich nutzen Geflüchtete soziale Kontakte vor Ort für den Zugang zum Arbeitsmarkt oder engagieren sich ehrenamtlich als Dolmetscher*innen in einem Betrieb oder in Behörden.
Die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes durch ein eigenes Auto stellt aus der Perspektive der Geflüchteten eine wichtige Voraussetzung für den Zugang zu Arbeit dar (s. Ergebnisse von Bose 2014) und wird auch von einigen Arbeitgeber*innen als Bedingung formuliert. Die Kenntnis über die Nutzung von Mitfahrgelegenheiten bei Arbeitskolleg*innen oder Vorgesetzten kann Handlungsmacht stärken (s. Kap. 7).
Sehr häufig wird der Zugang zu einem Arbeitsplatz von Geflüchteten an die Bedingung geknüpft, den Wohnort zu wechseln. Ein Umzug an Orte, wo man potenziell gut Arbeit finden kann, meistens größere Städte, wird oft in Erwägung gezogen (s. Ergebnisse von Shandy und Fennelly 2006; Huisman 2011 und Kap. 6). Der Arbeitsmarktzugang und der Wechsel des Wohnortes wird darüber hinaus im Familienverbund ausgehandelt und ein Umzug von Ehepaaren dorthin, wo einer der beiden Arbeit findet, wird ebenso berichtet wie ein Umzug eines Teils der Familie.
6.4.3 Arbeitssituation: Beschäftigung nach Sektoren
Die Beschäftigungssituation der befragten Geflüchteten ist unterschiedlich und hängt von rechtlichen Zugangsmöglichkeiten, Sprachkenntnissen, der Qualifikation und familiären Konstellationen ab (für verschiedene Formen von Diskriminierungen am Arbeitsplatz s. Kap. 8). In welcher Branche Geflüchtete Arbeit finden, wird maßgeblich von den lokal-regionalen Strukturen des Arbeitsmarktes bestimmt.Footnote 11 Beschäftigung für gering qualifizierte Arbeitnehmer*innen überwiegt dabei, vor allem in Hotellerie und Gastronomie oder im Bausektor. Das Handwerk und Werkstätten spielen auch eine Rolle (s. Kap. 4), ebenso wie das produzierende Gewerbe, je nach Region unter anderem die Automobilzulieferindustrie. Die Logistikbranche stellt eine weitere wichtige Beschäftigungsmöglichkeit dar, es überwiegen vor allem Lager- und Kommissioniertätigkeiten, da Fahrerlaubnisse – insbesondere zu Beginn – nur selten zur Verfügung stehen. Vor allem in Form von Minijobs und als Springertätigkeiten nehmen Geflüchtete Arbeit im Sektor Gebäudereinigung auf. Über kommunale oder soziale Institutionen werden Geflüchtete im Bereich öffentliche Ordnung (Bauhof, Grünunterhalt) oder in der Alten- und Krankenpflege beschäftigt, während im Bereich Kinderbetreuung Tätigkeiten vorwiegend auf Praktika beschränkt bleiben. Geflüchtete arbeiten außerdem in Asylunterkünften oder als Flüchtlingssozialarbeiter*innen. Höher qualifizierte Beschäftigung üben Geflüchtete im Pharma- und Medizinbereich (z. B. als PTA oder Apotheker) oder im IT-Sektor (Programmierung, Mediengestaltung) aus. Die Landwirtschaft spielte im internationalen Vergleich allerdings für Geflüchtete keine Rolle.
Als nicht-entlohnte Beschäftigung berichten Geflüchtete von Arbeiten im eigenen Haushalt und Care-Arbeiten, wie zum Beispiel die Zubereitung von Mahlzeiten und Kinderbetreuung. In weitaus geringerem Umfang spielen ehrenamtliche Tätigkeiten eine Rolle, z. B. bei einem Stadtfest. Eine Ausnahme bildet hier die Tätigkeit als Sprachmittler*in, z. B. im Rahmen eines Projektes der Bildungsmanagerin des Landkreises Regen.
Betrachtet man die Beschäftigungsbiographien von Geflüchteten, unterscheiden sich Kompetenzen und Qualifikationen, die im Herkunftsland erworben wurden und der tatsächlichen Beschäftigungssituation teilweise stark und werden nur sehr selten vollständig, meistens in Teilen und oftmals gar nicht in Wert gesetzt.
6.5 Gesundheit
Der Gesundheitszustand von Geflüchteten umfasst sowohl physische als auch psychische Dimensionen. Zudem können aktuelle Erfahrungen von Gesundheit und Krankheit nicht ohne eine Betrachtung der Vergangenheit im Herkunftsland, während der Flucht oder bei der Ankunft in Deutschland verstanden werden, da vielfach Wechselwirkungen zu beobachten sind und Persistenzen bestehen. Dies gilt insbesondere für psychosomatische Indikationen.
6.5.1 Beschreibung des Gesundheitszustandes und Interventionen
Psychologische Erkrankungen umfassen vor allem Traumata und deren Auswirkungen. Psychische Störungen reichen von Angststörungen (Phobien, Angst vor Menschen), Panikattacken bis hin zu Depressionen (letztere auch verbunden mit Suizidversuchen):
[spricht auf Arabisch] Nachdem wir nach [LANDGEMEINDE] gezogen sind, war ich krank. Und als wir hier waren, bin ich mehr krank geworden. Ich wollte mich mehrmals umbringen. Ich bin zu einem Psychiater gegangen. Ich war hier unter Druck und bin oft im Krankenhaus gewesen, weil ich hier in [LANDGEMEINDE] keine Kontakte hatte. Ich habe niemanden getroffen. (Palästinenserin, 30–40 Jahre, A_I_GEF_013)
Von Nervenzusammenbrüchen wird ebenso berichtet, genauso wie von Schlaf- und Konzentrationsstörungen oder allgemeiner Schwäche.
Geflüchtete sorgen sich nicht nur um den eigenen Gesundheitszustand, sondern auch um den der Kinder, Eltern oder der Verwandten im Herkunftsland, was wiederum Wechselwirkungen mit ihrem psychischen Wohlbefinden haben kann. In Bezug auf Kinder berichten sie von Wachstumsstörungen, Seh- und Hörstörungen oder Sprachstörungen.
Die Integrationsdimension Gesundheit ist im Lebensalltag von Geflüchteten schließlich stark verflochten mit anderen Bereichen. So bekommen Geflüchtete mit Erkrankungen die Möglichkeit, auch vor dem Erhalt eines Aufenthaltstitels in eine eigene Wohnung zu ziehen oder erhalten Unterstützung dabei, die Wohnung zu wechseln (zu Spielräumen der Kommunen, s. Kap. 4). Chronische Erkrankungen können andererseits den Zugang bzw. die regelmäßige Teilnahme an Integrationsmaßnahmen verhindern und krankheitsbedingte Abwesenheiten führen zu schulischen Schwierigkeiten. Darüber hinaus werden Auswirkungen in Bezug auf die Arbeitsaufnahme berichtet, hier hauptsächlich Rückenprobleme, die es unmöglich machen, körperliche Tätigkeiten zu vollziehen.
In Bezug auf den Umgang mit Krankheit verweisen die individuell bedeutsamen Orte im Mobility Mapping auf den Besuch einer Vielzahl von Ärzt*innen verschiedener Fachrichtungen. Interventionen umfassen neben Medikamentengaben auch häufige Krankenhausaufenthalte. Geflüchtete berichten von kulturell bedingten Unsicherheiten im Patient-Arzt-Kontakt und weisen auf undifferenzierte Therapien hin. Der Vorschlag von Hausärzt*innen, Wasser zu trinken, wird nicht als Therapie verstanden und Zurückhaltung bei der Verordnung von Medikamenten kann nicht nachvollzogen werden. Auch besteht Unverständnis darüber, dass immer die gleichen Tabletten, meist Analgetika, verschrieben werden. Die richtige Einnahme von Medikamenten scheitert zudem an mangelnden Erklärungen und Sprachdefiziten.
Eigentlich gibt es etwas [lacht] das mich überrascht hat. Hier wenn man zu einem Arzt gehen will, muss man einen Termin haben. Und wenn man auch einen Termin hat, muss man vier oder fünf Stunden warten. Und auch wenn man reingeht (…) [lacht]. Du merkst nicht, dass dieser Mann Arzt ist [lacht] und hilft dir, um gesund zu werden. Bei uns, in unserem Heimatland, wenn man zu einem Arzt geht, gibt er dir eine große Tüte mit Medikamenten [lacht]. Aber ja, du merkst, dass das nicht eine Praxis für einen Arzt ist, sondern wie ein Geschäft und du kaufst einen Kaugummi. (Syrer, 50–60 Jahre, C_VI_GEF_083)
Wie im Zitat deutlich wird, ist auch die Vergabe von Terminen ungewöhnlich aus Sicht vieler Geflüchteter. Das Aufsuchen von Ärzt*innen ist schließlich mit Diskriminierungserfahrungen verbunden und unter den Geflüchteten spricht sich herum, welche Ärzt*innen eine offene Einstellung haben.
In den Gesprächen standen Narrative zu Interventionen und Therapien bei akuten und chronischen Krankheitsbildern im Vordergrund. Zahlreiche Familien berichten von Erfahrungen in Krankenhäusern bei der Geburt eines Kindes. Prävention und der Erhalt von Gesundheit hingegen spielen kaum eine Rolle. So werden Bewegung und Sport vor allem soziale und kommunikative Funktionen zugeschrieben.
6.5.2 Zugang zu Gesundheit
In Bezug auf die aktuelle Bewertung des Zugangs zu Gesundheitsinfrastrukturen durch Geflüchtete zeigen Daten, dass Geflüchtete Ärzt*innen vor Ort vorziehen, aber auch wissen, wo sie Fachärzt*innen erreichen können und für welche Krankheitsbilder sie diese aufsuchen sollen. Zudem zeigen sich Präferenzen für Ärzt*innen, mit denen Geflüchtete in ihrer Muttersprache kommunizieren können. Diese befinden sich jedoch häufig in größeren Städten.
[spricht auf Arabisch] Eigentlich wenn wir zu einem Arzt gehen wollen, dann gehen wir zu einem Hausarzt. Hier gibt es eine Klinik (Praxis), wir gehen hin, wenn wir einen Schnupfen oder eine Grippe haben. [spricht auf Deutsch] Beispiel: Wenn ich möchte, gehe ich zu einem Kinderarzt, ich brauche drei Stunden. Du brauchst eine Stunde mit dem Zug hin/Es ist einfacher hier (am Ort). (Syrer, 30–40 Jahre, B_III_GEF_044)
[spricht auf Arabisch] Wenn wir irgendetwas haben, gehen wir hier zum Arzt. (Syrerin, 20–30 Jahre, B_III_GEF_044)
Interviewperson (IP) [spricht auf Arabisch]: Frauenarzt in Nürnberg. Sie [die Ehefrau von IP] ging erst immer zu einer Ärztin, einer Frauenärztin in [KLEINSTADT] und wegen der Sprache musste sie dann nach Nürnberg, damit man es dort besser erklären kann.
(Syrer, 30–40 Jahre, B_III_GEF_041)
Die Auswertung der Mobility Maps zeigt, dass Gesundheitsinfrastrukturen innerhalb des Wohnorts überwiegend zu Fuß aufgesucht werden (139 von 170 Interviewten). Befinden sich Ärzt*innen an anderen Orten, werden diese mit dem ÖPNV (110 von 172) und zu einem geringeren Anteil (68 von 172) auch mit dem eigenen Auto erreicht. Bei Ärzt*innen, die sich weiter vom Wohnort entfernt befinden, führen lange Fahrt- und Wartezeiten dazu, dass ein ganzer Tag für den Arztbesuch aufgewendet werden muss. Dies weist somit auf die bereits vieldiskutierte problematische Erreichbarkeit von Spezialist*innen mit öffentlichen Verkehrsmitteln hin (Bose 2014). Zum Erreichen von Ärzt*innen werden Fahrdienste von Nachbar*innen in Anspruch genommen oder die Begleitung durch Kinder praktiziert (s. Ergebnisse von Sim 2015).
7 Zusammenfassung
In der Gesamtschau der Lebenswelten von Geflüchteten in ländlichen Regionen konnten mit einer biographischen Analyseperspektive soziale Praktiken sowie Exklusions- und Inklusionserfahrungen identifiziert werden. Auch die Erlangung von Handlungsmacht zeigt sich in verschiedenen Bereichen des Alltagslebens.
Im Bereich Wohnen stellte der Einzug in eine eigene Wohnung nach zahlreichen unfreiwilligen Umverteilungen und Umzügen ein bedeutendes Lebensereignis dar. Rund 200 Tage nach der Ankunft in Deutschland konnten Geflüchtete im Durchschnitt eine eigene Wohnung beziehen, wobei der Zugang zu Wohnraum in ländlichen Regionen aufgrund struktureller Spezifika (z. B. schlechte Verfügbarkeit von Mietwohnungen, Diskriminierung durch Vermieter*innen) und persönlicher Konstellationen der Geflüchteten (volatile Bleibeorientierung) oftmals herausfordernd ist (Weidinger et al. 2017; Weidinger und Kordel 2020). Die Unterstützung durch haupt- und ehrenamtliche Akteur*innen ist besonders in der Anfangszeit, in der sich Geflüchtete im lokal-regionalen Wohnungsmarkt orientieren, zentral. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Deutschland eignen sich Geflüchtete detailliertes Wissen über lokal-regionale Wohnungsmärkte in ländlichen Regionen an und setzen sich etablierende Netzwerke in Wert. Haben Sie eine private Wohnung bekommen, streben Geflüchtete an, von Nachbar*innen bzw. der Hausgemeinschaft akzeptiert zu werden (Glorius et al. 2020) und adaptieren ihr Verhalten, z. B. indem sie als Mieter*in Regeln befolgen.
Die Ergebnisse zeigen, dass wichtige Orte im Alltagsleben von Geflüchteten mit den Integrationsdimensionen nach Ager und Strang (2008) übereinstimmen. Daraus kann geschlossen werden, dass sich räumlich verankerte Gelegenheiten für Integration in der Lebenswelt von Geflüchteten alltäglich auftun. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass die Erfahrungen in den Integrationsdimensionen in Wechselwirkungen stehen. So hat der Gesundheitszustand von Geflüchteten zum Beispiel Auswirkungen auf die Bereiche Wohnen oder Bildung.
Des Weiteren konnte die biographische Perspektive zeitlich-relationale Bezüge und Aushandlungsprozesse aufdecken und zeigen, dass Geflüchtete durch die Erlangung von Handlungsmacht in der Lage sind, Entscheidungen für die eigene Zukunft auf eine solide Basis zu stellen. Dem Erwerb der deutschen Sprache kommt hierbei besondere Bedeutung zu. Ein erfolgreicher und nachhaltiger Spracherwerb hängt jedoch von strukturellen Faktoren, wie dem Zugang zu qualitativ hochwertigen Kursangeboten, Gelegenheiten zur Vertiefung der Sprachkenntnisse im Alltag, Kontakten zu Ehrenamtlichen, die ergänzend zu bestehenden Strukturen Unterstützung beim Spracherwerb leisten, alltäglichen sozialen Kontakten, z. B. zu Nachbar*innen, Arbeitskolleg*innen und Vereinsmitgliedern, und schließlich der Motivation und der eigenen Bildungsbiografie ab.
Am Beispiel des Bereichs Arbeit zeigt sich, dass Erwartungen der Aufnahmegesellschaft an Geflüchtete, zügig einen Arbeitsplatz zu finden, von Geflüchteten selbst differenzierter bewertet werden. Die Bedeutungen von Arbeit im Lebensalltag von Geflüchteten umfassen die Realisierung von Unabhängigkeit von Sozialleistungen und Institutionen und die Möglichkeit, Anschaffungen zu tätigen, die auch in die Zukunft weisen (Wohnungseinrichtung, Führerschein). Zudem trägt ein Arbeitsplatz zu Wohlbefinden bei (s. Kap. 8). Wie beim Zugang zu Wohnraum werden Geflüchtete auch für einen Zugang zu einem Arbeitsplatz von Akteur*innen aus staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen (meist dem Jobcenter, der Berufsschule oder Ausbildungsakquisiteur*innen), der Zivilgesellschaft sowie anderen Geflüchteten unterstützt. Für ein stetes Beschäftigungsverhältnis sind das Wissen über lokal-regionale Arbeitsmärkte und die Erkenntnis darüber, dass Pendeln zum Arbeitsplatz eine etablierte Praxis in ländlichen Regionen darstellt, wichtig. Die (Nicht-)Realisierung von Alltagsmobilität entscheidet häufig über Exklusion und Inklusion in verschiedenen Bereichen des Lebensalltags (s. Kap. 7). Inwiefern nun die Erfahrungen im Lebensalltag dazu führen, dass sich Geflüchtete mehr oder weniger aktiv dazu entscheiden, in ländlichen Regionen wohnen zu bleiben und sich dort eine Zukunft aufzubauen, wird in Kap. 6 näher diskutiert.
Notes
- 1.
- 2.
Aufgrund von pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen wurde eine Vorgehensweise entwickelt, die es erlaubte, Gruppengespräche auch in einem digitalen Format durchzuführen.
- 3.
Wohnbiographien vor der Ankunft in Deutschland wurden nicht explizit einbezogen, um den zeitlichen Aufwand für die Interviews zu reduzieren und mögliche traumatische Erlebnisse nicht zu triggern. Geflüchtete konnten sich jedoch auf eigenen Wunsch zum Herkunftskontext äußern.
- 4.
Um die Erstellung des Methodensets kritisch zu begleiten, wurde ein Arbeitsbeirat aus Wissenschaftler*innen, nicht-professionellen Konsekutiv-Dolmetscher*innen und Akteur*innen des Integrationsbereichs aus den Landkreisen eingesetzt.
- 5.
Die hier skizzierten drei Modi des Feldzugangs wurden je nach regionalen Gegebenheiten in unterschiedlicher Intensität angewendet.
- 6.
- 7.
- 8.
Beim Einsatz von Konsekutivdolmetscher*innen erfolgte ausschließlich die Verschriftlichung der deutschen Passage, wobei der Hinweis „[spricht Sprache x]“ vorangestellt wurde.
- 9.
Aus Platzgründen kann auf die Situation in staatlichen Unterkünften hier nicht explizit eingegangen.
- 10.
Abneigung oder feindliche Einstellung gegenüber der ethnisch-religiösen Gruppe der Yezid*innen.
- 11.
Insbesondere für die sächsischen Landkreise können, bedingt durch das Sampling und den geringen Anteil an Befragten mit Arbeitserlaubnis, nur bedingt Aussagen getroffen werden.
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Kordel, S., Weidinger, T., Spenger, D. (2023). Sichtweise Geflüchteter auf das Leben in ländlichen Regionen. In: Mehl, P., Fick, J., Glorius, B., Kordel, S., Schammann, H. (eds) Geflüchtete in ländlichen Regionen Deutschlands. Studien zur Migrations- und Integrationspolitik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36689-6_3
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