Schlüsselwörter

1 Einleitung

Bei der Untersuchung der Leitfrage, wovon die Integrationschancen von Geflüchteten in ländlichen Regionen abhängen, nehmen wir an, dass unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Bedingungen die Teilhabechancen Geflüchteter und die lokalen Handlungsmöglichkeiten beeinflussen können, ohne diese zu determinieren. Um die jeweils unterschiedlichen Bedingungen in den Untersuchungslandkreisen und -gemeinden abzubilden, werden daher in diesem Kapitel potenziell integrationsrelevante sozioökonomische Rahmenbedingungen durch Indikatoren erfasst und verglichen. Dabei stützen wir uns hauptsächlich auf Sekundärdaten, die in ihren unterschiedlichen Ausprägungen die jeweiligen Situationen in den Untersuchungsregionen kennzeichnen. Die Auswahl der Indikatoren erfolgt theoriebasiert ausgehend von einer Auswertung des Forschungsstandes (s. Abschn. 2.3) und dem Modell von Ager und Strang (s. Kap. 1). Zusätzlich zu den von Ager und Strang identifizierten Integrationsdimensionen haben wir – ausgehend von der Annahme, dass Alltagsmobilität eine wichtige Voraussetzung für das Bleiben sowie die Teilhabe am ökonomischen, politischen und sozialen Leben in ländlichen Regionen ist (Kumar 2002; Kenyon et al. 2002; Cass et al. 2005) – die Erreichbarkeit wichtiger Infrastrukturen als einen weiteren, insbesondere in ländlichen Räumen potenziell wichtigen Bereich identifiziert. Der Grund dafür ist, dass viele Infrastrukturen sich in ländlichen Regionen häufig nicht am Wohnort bzw. in fußläufiger oder einfach mit dem ÖPNV erreichbarer Entfernung befinden. Die umfangreichen Ergebnisse werden in diesem Sammelband in sehr verdichteter Form präsentiert, ausführliche Ergebnisdarstellungen sind in Neumeier 2019 und Osigus et al. 2019 zu finden. Abschließend werden die zentralen Erkenntnisse zusammengefasst und ein Fazit gezogen (s. Abschn. 2.5).

2 Forschungsstand

Die vorliegende Studie knüpft an eine ganze Reihe von Untersuchungen an, die Fragen der Migration und Integration in ländlichen Räumen in den Blick nehmen und diese nicht als homogene Einheit wahrnehmen, sondern deren Vielfalt explizit berücksichtigen (s. Schader-Stiftung [ILS/IRS] 2011; Schader-Stiftung 2014; Gesemann et al. 2012; Aumüller und Gesemann 2014; Gesemann und Roth 2016; difu 2018; Deutscher Landkreistag 2016; Schammann et al. 2020; empirica 2015a, b, 2016; Geis und Orth 2016).Footnote 1

In einigen dieser Untersuchungen werden unterschiedliche sozioökonomische Ausgangsbedingungen lediglich zur näheren Kennzeichnung der Untersuchungsorte verwendet, in anderen werden sie auch explizit als potenziell wichtiger Faktor gesehen. Dort wird angenommen, dass sie die jeweiligen Ausgangssituationen und Handlungsspielräume der Akteur*innen vor Ort prägen. Je nach Erkenntnisinteresse der einzelnen Untersuchungen werden dabei unterschiedliche Aspekte in den Blick genommen.

Die umfassendste und strukturierteste Differenzierung findet sich in einer Studie im Auftrag der Schader-Stiftung [ILS/IRS] (2011). Dort werden die demographische Entwicklung (dynamisch, stabil, schrumpfend), die wirtschaftliche Prosperität (prosperierend, stagnierend, strukturschwach) sowie das Arbeitsplatzpotenzial (hoch/vielfältig, gering, kaum qualifizierte Angebote) als sozioökonomisch relevante Dimensionen erfasst. Hinzu kommen noch weitere Aspekte wie die sozialhistorische Prägung, die Integrationsgeschichte bzw. die An- und Abwesenheit von Zugewanderten sowie die kommunalpolitische Aufgabenverteilung zwischen Landkreis und kreisangehöriger Gemeinde (s. Schader-Stiftung [ILS/IRS] 2011, S. 57), die föderale Aufgabenverteilung zwischen Bund-Land-Kommune bzw. Landkreis und kreisangehöriger Gemeinde sowie die jeweilige kommunale Finanzsituation (s. Schader-Stiftung [ILS/IRS] 2011, S. 19, 57). Im weiteren Verlauf der Analyse wird allerdings nicht näher untersucht, ob und wenn ja welche Wirkungen von diesen unterschiedlichen Merkmalen ausgehen. Andere Studien nützen Teilmengen des o. g. Faktorensets mit teilweise unterschiedlichen Indikatoren und Raumtypisierungen (Schader-Stiftung 2014; Aumüller und Gesemann 2014; Gesemann und Roth 2016) und fügen Gemeindegrößenklassen (Gesemann et al. 2012) oder zusätzliche Aspekte wie Stadtgestalt, Stadtgliederung, bildungs- und soziokulturelle Infrastruktur sowie außerdem die Verortung im Landkreis und Entfernung zu den nächstgelegenen Oberzentren hinzu (difu 2017; Reimann et al. 2018a, b).

Generell gilt für alle eben genannten Studien, dass die Frage, wie und in welchem Ausmaß Unterschiede in den Ausgangssituationen die jeweilige Migrations- bzw. Integrationspolitik prägten bzw. das Binnenmigrationsverhalten der Geflüchteten beeinflusst haben, entweder gar nicht oder nur am Rande thematisiert bzw. sehr pauschal abgehandelt wird. So weisen etwa Aumüller et al. (2015) darauf hin, dass ihre Auswahl der Untersuchungsgemeinden „keine allgemeinen Aussagen über den Einfluss bestimmter sozialräumlicher und gemeindetypologischer Strukturmerkmale auf die Flüchtlingsaufnahme“ (Aumüller et al. 2015, S. 12, Fußnote) zulässt. Auch in einer Untersuchung unter Federführung des Deutschen Landkreistages (2016) in insgesamt 18 Landkreisen werden Anzahl der Gemeinden, größter Ort, Fläche, Bevölkerungsdichte, Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, Arbeitslosenquote und Ausländerquote lediglich ausgewiesen, um die erheblichen Unterschiede zwischen diesen zu dokumentieren. Auch hier wird auf die potenziellen oder tatsächlichen Auswirkungen dieser Unterschiede nicht weiter eingegangen, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass diese Unterschiede in keinem Fall erfolgreiche Integration verunmöglicht haben (Aumüller et al. 2015, S. 10).

Die Studie „Zwei Welten – Integrationspolitik in Stadt und Land“ fragt in 92 Kommunen in zwölf Bundesländern unter anderem danach, „ob und in welchem Ausmaß regionale Disparitäten Varianzen in lokalen integrationspolitischen Strategien erklären können“ (Schammann et al. 2020, S. 15). Im Ergebnis ihrer umfangreichen Analyse kommen die Autor*innen zum Ergebnis, dass die von den Interviewten angeführten Strukturmerkmale keineswegs immer mit den erhobenen Daten übereinstimmten, sich zum Teil sogar starke Widersprüche zeigten. Schammann et al. (2020) leiten daraus die Schlussfolgerung ab, dass für die integrationspolitische Haltung und Ausrichtung einer Kommune Strukturdaten zwar prägend seien, jedoch von weiteren Faktoren transformiert werden können (s. auch Schammann et al. 2021). Es sei „daher davon auszugehen, dass die genannten Strukturmerkmale nur dann Wirkung entfalten, wenn sie als solche wahrgenommen werden und Eingang in lokale Erzählungen bzw. handlungsleitende frames finden“ (Schammann et al. 2021, S. 86).

Andere Studien, die Vorschläge für eine bessere räumliche Verteilung Geflüchteter in Deutschland erarbeiten, gehen implizit von der Prämisse aus, dass sozioökonomische Rahmenbedingungen Teilhabechancen beeinflussen. So wurde in mehreren Beiträgen des Beratungsunternehmens empirica (2015a, b, 2016) argumentiert, dass der durch Geflüchtete entstehenden zusätzlichen Wohnungsmarktnachfrage sehr gut dadurch begegnet werden könnte, wenn diese in den bereits vorhandenen leerstehenden Wohnungen in ländlichen Regionen untergebracht würden (empirica 2015b, S. 6). „Gerade in den ländlichen Abwanderungsregionen“ stünden auch die „Chancen auf einen Arbeitsplatz meist besser als in den wachsenden Metropolregionen“, u. a., „weil in eher ländlichen Regionen einer steigenden Arbeitsnachfrage ein durch Abwanderung sinkendes Angebot gegenüber steht“ (empirica 2015b, S. 8). Empirica stützt diese Empfehlungen auf Indikatoren zum Wohnungsleerstand und dem Anteil offener Stellen je 1000 Erwerbsfähige auf Landkreisebene.Footnote 2 Geis und Orth (2016) sehen dagegen neben der Verfügbarkeit von geeignetem Wohnraum und der Lage am Arbeitsmarkt auch die Verfügbarkeit von medizinischer Versorgung, sozialer Betreuung und weiteren Versorgungsleistungen, verfügbare Kapazitäten im Bildungssystem sowie die wirtschaftliche Lage der Kommunen als relevant an. Auf eine Integration dieser Indikatoren in einen Gesamtindex verzichten die Autoren dabei ausdrücklich, u. a. mit dem Hinweis auf eine unzureichende Datengrundlage und das Problem, wie die einzelnen Indikatoren zu gewichten wären. Diese Reflexion des Forschungsstands hat uns veranlasst, unsere Dimensions- und Indikatorenauswahl auf die Typologie ländlicher Räume des Thünen-Instituts einerseits und den Integrationsbegriff von Ager und Strang andererseits zu basieren. Wir nehmen bewusst Abstand davon, einen Gesamtindikator der Integrationspotenziale zu bilden, streben aber an, für ein multidimensionales Gesamtbild der Untersuchungsregionen die einzelnen Indikatoren über deren Standardabweichungs-Einheiten vom Mittelwert miteinander in Beziehung setzen zu können. Dazu werden die Einzelindikatoren mittels der statistischen Methode der z-Transformation standardisiert.

3 Sozioökonomische Ausgangssituation der Untersuchungslandkreise und -gemeinden

3.1 Datengrundlage und methodisches Vorgehen

Welche sozioökonomischen Rahmenbedingungen nehmen wir als integrationsrelevant an? Leitend für die Auswahl der Dimensionen und den darin verwendeten Indikatoren ist das Integrationsmodell von Ager und Strang (2008), das den gemeinsamen konzeptionellen Bezugspunkt des Verbundprojekts bildet. Bei den von Ager und Strang vorgegebenen DimensionenFootnote 3 müssen allerdings zum einen datenbedingt Abstriche gemacht werden, zum anderen sind Erweiterungen des Modells in den spezifisch ländlichen Problemzusammenhängen erforderlich.

Über Indikatoren nicht erfasst bzw. adäquat abzubilden sind rechtliche Rahmenbedingungen, Ausmaß und Intensität der Begegnung zur lokalen Bevölkerung (von Ager und Strang links genannt) sowie Beziehungen zu ethnischen Gemeinschaften (von Ager und Strang bonds genannt) und die Verbindung zu staatlichen Strukturen (von Ager und Strang bridges genannt). In anderen Dimensionen von Ager und Strang liegen Daten nicht auf kleinräumiger Ebene, sondern nur auf Bundesländer-Ebene vor und werden auch nicht differenziert nach unterschiedlichen Gruppen von Migrant*innen ausgewiesen. Erweiterungen im Kontext spezifisch ländlicher Problemzusammenhänge betreffen die Dimension „Räumliche Mobilität und Erreichbarkeit“, die wir als spezifisch ländlichen Teilhabefaktor in Abschn. 2.4 gesondert darstellen, und außerdem die Bereiche „Wohlstand und kommunale Finanzsituation“ sowie „Demographie“. Die wirtschaftliche Situation, der Schuldenstand sowie die Einnahmesituation von Landkreisen und deren kreiseigenen Gemeinden geben Hinweise darauf, in welchem Umfang die jeweiligen kommunalen Gebietskörperschaften in der Lage sind, zusätzliche eigene Anstrengungen zur Aufnahme, Unterbringung und sozialen Integration von Geflüchteten zu erbringen, unabhängig von der Unterstützung durch den Bund oder das jeweilige Bundesland. Mit der Dimension „Demographie“ wird erfasst, in welchem Ausmaß die Untersuchungslandkreise und deren kreiseigene Gemeinden vom demographischen Wandel – und dabei insbesondere von Abwanderung und Alterung – betroffen sind.

Insgesamt erfassen wir 20 Indikatoren in den acht Dimensionen „Arbeitsmarkt“, „Wohnraum“, „Bildung“, „Gesundheit“, „Geborgenheit und Sicherheit“, „Wohlstand und kommunale Finanzsituation“, „Demographie“ und „Erreichbarkeit und Mobilität“. Eine detaillierte Auflistung der Dimensionen und der verwendeten Indikatoren findet sich in der online verfügbaren Tabelle „Erfassung der Integrationspotenziale der Untersuchungslandkreise: Dimensionen, Indikatoren, Datengrundlage, zentrale Aussagen und ergänzende Hinweise“(s. Osigus 2021c).Footnote 4 Hier ist außerdem für alle 20 Indikatoren dargestellt, was der jeweilige Indikator erfasst und welche integrationsrelevante Beeinflussung der Ausgangssituation wir annehmen.

Die verwendeten Integrationsdimensionen werden unabhängig voneinander gemessen und dann als mehrdimensionales Konzept durch Standardisierung soweit integriert, dass sie direkt aufeinander bezogen werden können, ohne sie zu einem Gesamtindikator zusammenzufassen. Von einem solchen Gesamtindikator, der die acht Dimensionen und 20 IndikatorenFootnote 5 zu einem einheitlichen, zusammenfassenden Integrationsindex verdichten würde, nehmen wir bewusst Abstand. Eine solche Indexbildung würde durch die hierzu erforderliche Gewichtung der Einzelindikatoren eine stark subjektive Komponente beinhalten, die sich direkt auf das Ergebnis auswirkt. Das würde nicht nur die Gefahr einer Fehlinterpretation erhöhen, es würden auch wichtige Unterschiede in den zugrundeliegenden Einzelindikatoren verloren gehen. Präferiert wird demgegenüber eine Darstellung, die ein differenziertes Bild der Stärken und Schwächen der einzelnen Landkreise und ihrer kreiseigenen Gemeinden in Bezug auf die einzelnen Dimensionen zeichnet.Footnote 6

Ein Vergleich von Ursprungswerten über mehrere unterschiedliche Indikatoren mit unterschiedlichen Bezugssystemen ist selten direkt möglich. Um einzelne Indikatorwerte verschiedener Indikatoren, die in unterschiedlichen Maßeinheiten erfasst wurden, in Bezug auf ihre Lage zu vergleichen,Footnote 7 werden diese vor dem Vergleich einer z-Transformation unterzogen. Solche z-transformierten Werte werden nicht mehr in den Originalmaßeinheiten gemessen, sondern in Vielfachen der Standardabweichung. Der Mittelwert von z-transformierten Werten ist immer 0 und – falls die Originalwerte normalverteilt sind – die Standardabweichung immer 1. Durch die Berechnung des sogenannten z-Wertes für jeden einzelnen Indikatorwert wird für diesen somit der ursprüngliche Wert in einem Wertesystem wie Euro, Prozent oder Personen aufgegeben. Gleichzeitig wird das Verteilungsmuster des Indikators beibehalten. Durch ihren einheitlichen Bezugspunkt 0 ermöglichen z-transformierte Werte den gegenseitigen Vergleich anhand der Größe und Richtung der jeweiligen Abweichungen vom Mittelwert 0.

Grundlage für die Analyse sind Daten der statistischen Ämter des Bundes und der Länder, des Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie (BKG), der empirica (Zeit Online) sowie des Thünen-Instituts. Bei der Auswertung werden Indikatoren betrachtet, die für unterschiedliche regionale Ebenen verfügbar sind. Auf Gemeindeebene verfügbar sind die Indikatoren Arbeitslosigkeit von unter 25-Jährigen, Langzeitarbeitslosigkeit, sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Wohnort, Veränderung der Wohnerwerbsbevölkerung durch Pendeln, Wohnungsleerstand und -vermietungsquote, Bruttoentgelte, Steuereinnahmen, Anteil der unter 25- und über 65-Jährigen, die Veränderungsrate des Durchschnittalters und die Wanderungen; auf Kreisebene verfügbar sind die Indikatoren Angebotsmieten, Erreichbarkeit durch die Polizei, flüchtlingsfeindliche Vorfälle sowie Straftaten je 100.000 Einwohner; die Erreichbarkeitsindikatoren aus dem Thünen-Erreichbarkeitsmodell liegen auf der Ebene eines Rasters von 250 × 250 m vor und werden durch Mittelwertbildung auf Gemeindeebene aggregiert.

3.2 Ergebnisse des Vergleichs sozioökonomischer Indikatoren für Untersuchungslandkreise und -gemeinden

Aus Platzgründen kann eine differenzierte Ergebnisdarstellung der Ausgangssituation der Untersuchungslandkreise und -gemeinden über die 20 Indikatoren an dieser Stelle nicht erfolgen (s. hierzu Osigus et al. 2019). Um an dieser Stelle gleichwohl eine komprimierte Gesamtbetrachtung der integrationsrelevanten Rahmenbedingungen in den einzelnen UntersuchungsgemeindenFootnote 8 bzw. in und zwischen den betrachteten Landkreisen zu ermöglichen, wurde im Folgenden eine Synthese erstellt, die nach den Integrationsdimensionen differenziert (s. ausführlich Osigus 2021a, d). Dazu wurde jeweils ein Dimensionsindex aus dem Durchschnitt der gleichgewichteten Einzelindikatoren gebildet,Footnote 9 ein Gesamteindruck formuliert und erhebliche Abweichungen davon beschrieben. Als Grenzwert für eine erhebliche Abweichung der Indikatorenwerte vom Mittelwert setzen wir eine Standardabweichung ab 0,7 bzw. −0,7 an. Mit diesen Schwellenwerten folgen wir dem Bundesamt für Bau-, Stadt und Raumforschung (Deutscher Bundestag 2017), das diese Festlegung im Kontext der Diskussion um eine indikatorengestützte Bestimmung (un-)gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland vorgenommen und begründet hat.

Bezogen auf die acht Dimensionen lässt sich feststellen:

  • In der Dimension „Arbeitsmarkt“Footnote 10 zeigen sich teilweise deutliche Unterschiede bei den Einzelindikatoren, die aber in ihrer Zusammenschau zu einem recht ausgeglichenen Dimensionswert insgesamt führen können. Beispielsweise wird der in vielen Untersuchungsgemeinden anzutreffende relativ hohe Anteil an Arbeitslosen unter 25 Jahren in einigen Untersuchungsgemeinden durch einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Beschäftigten am Wohnort ausgeglichen. Insgesamt zeigt der Gesamtindikator, dass die Untersuchungsgemeinden Allendorf (Eder) in Hessen, Burgbernheim in Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim und Teisnach in Regen vergleichsweise günstige Rahmenbedingungen für Geflüchtete bieten, am Arbeitsmarkt teilhaben zu können.Footnote 11 Demgegenüber bestehen in den sechs Untersuchungsgemeinden Bad Gandersheim und Uslar im Kreis Northeim (Niedersachsen), Wanfried im Werra-Meißner-Kreis (Hessen) sowie Bad Düben, Laußig und Torgau im Kreis Nordsachsen (Sachsen) vergleichsweise ungünstige Rahmenbedingungen für eine Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt.

  • Die Indexwerte in der Dimension „Wohnraum“ sind zwischen den Untersuchungsgemeinden und -landkreisen in den westdeutschen Bundesländern relativ ausgeglichen, sodass hier vergleichsweise einheitliche Chancen bestehen dürften, Wohnraum für Geflüchtete zu finden. In den beiden ostdeutschen Untersuchungslandkreisen Bautzen und Nordsachsen lassen sich dagegen in allen Untersuchungsgemeinden vergleichsweise positive Abweichungen des Indexwertes feststellen. In allen Untersuchungsgemeinden der beiden sächsischen Untersuchungslandkreisen bestehen gemäß der Datenlage vergleichsweise günstige Rahmenbedingungen im Hinblick auf das für Geflüchtete potenziell zur Verfügung stehende Wohnraumangebot. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Daten zu den verwendeten Indikatoren „Wohnungsleerstand“ und „Vermietete Wohnungen an allen Wohnungen“, welche neben dem Indikator „Angebotsmieten“ in den Index eingeflossen sind, aus dem Zensus von 2011 stammen. Beide Indikatoren werden unterschiedlich und nicht vollständig jährlich fortgeschrieben. Es ist anzunehmen, dass diese Fortschreibung die Dynamik der lokalen Wohnungsmärkte nur unzureichend erfasst. Daher dürften die Indikatoren nur eingeschränkt geeignet sein, die direkte Leerstands- und Vermietungssituation in den Untersuchungsgemeinden zum Erhebungszeitpunkt verlässlich abzubilden. Jedenfalls deuten die Ergebnisse zum Thema Wohnsituation aus den Befragungen darauf hin (s. Abschn. 3.6.2 sowie Abschn. 4.2.2), dass sich der lokale Wohnungsmarkt für Wohnungssuchende auch in vielen Untersuchungsgemeinden der sächsischen Landkreise schwieriger gestaltet, als die Daten vermuten lassen.

  • Die Finanzsituation ist in fast allen Untersuchungsgemeinden relativ einheitlich. Nur die Untersuchungsgemeinden Burghaslach im Kreis Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim in Bayern und Bischofwerda im Kreis Bautzen in Sachsen weisen eine deutlich unterdurchschnittliche Finanzsituation auf. Demgegenüber weisen Allendorf (Eder) im Kreis Waldeck-Frankenberg in Hessen sowie Teisnach im Kreis Regen in Bayern eine deutlich überdurchschnittliche Finanzsituation auf.

  • In der Dimension „Demographie“ schneiden besonders die sächsischen Untersuchungsgemeinden mit Ausnahme von Sohland a. d. Spree im Landkreis Bautzen sowie Torgau und Wiedemar im Kreis Nordsachsen und Dassel im Landkreis Northeim in Niedersachsen deutlich unterdurchschnittlich ab. Das bedeutet, die dort vorherrschenden Herausforderungen zur Anpassung der Daseinsvorsorge an eine vergleichsweise stark alternde und rückläufige Bevölkerung lassen auf höhere Aufwendungen für die dafür erforderliche Infrastruktur wie Altenheime, Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, und einen geringeren Anteil an Einrichtungen und Personal für Infrastrukturen der Daseinsvorsorge für die jüngeren Bevölkerungsschichten, wie etwa Kindergärten oder Schulen, schließen. Das Vorhandensein der zuletzt genannten Einrichtungen ist jedoch für die Integration von Geflüchteten von besonderer Relevanz. Neben Burgbernheim im Kreis Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim und Teisnach im Kreis Regen in Bayern weist besonders der gesamte niedersächsische Untersuchungslandkreis Vechta eine deutlich überdurchschnittliche positive demographische Lage auf.

  • In den Dimensionen „Erreichbarkeit von Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen“ sowie „allgemeine Erreichbarkeit“ ist die Situation relativ einheitlich. Die Daten zeigen einerseits, dass Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen in allen Untersuchungsregionen grundsätzlich vorhanden/erreichbar sind, andererseits, dass deren Erreichbarkeit in starkem Maße vom individuell nutzbaren Verkehrsträger abhängt. Das bedeutet, dass davon auszugehen ist, dass v. a. weniger mobile Geflüchtete, die weder einen Pkw noch den ÖPNV nutzen können, z. T. mit einem deutlich höheren Zeitaufwand konfrontiert sind, um Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen zu erreichen. Selbst wenn auf Gemeindeebene die Erreichbarkeit in allen drei betrachteten Dimensionen keine besonders ausgeprägten Abweichungen nach oben oder unten zeigt (mit Ausnahme der vergleichsweise guten Erreichbarkeit von Gesundheitseinrichtungen in der Gemeinde Uslar im Kreis Northeim in Niedersachsen), ist zu beachten, dass die intraregionalen Erreichbarkeitsverhältnisse (also die Erreichbarkeit in Abhängigkeit vom Wohnort innerhalb der Gemeinde) von den Gemeindedurchschnitten abweichen können und daher gesondert zu betrachten sind (s. nachfolgenden Abschn. 2.4).

  • In der Dimension „Geborgenheit und Sicherheit“ schneiden Burghaslach im Landkreis Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim in Bayern, die Untersuchungsgemeinden im sächsischen Landkreis Bautzen sowie die Gemeinden Laußig und Wiedemar im Landkreis Nordsachsen verglichen mit der Gesamtsituation in den vier Untersuchungsbundesländern schlecht ab. Insbesondere die hohe Anzahl an flüchtlingsfeindlichen Vorfällen in den sächsischen Untersuchungsgemeinden führt dort zu einer deutlichen negativen Abweichung des Indexwertes.

  • In der Gesamtschau befindet sich der überwiegende Teil der betrachteten Gemeinden, nimmt man die Abgrenzung des BBSR (2017) (Deutscher Bundestag 2017) von −0,7 bis 0,7 zum Maßstab, in der Mehrzahl der Dimensionen in einem nicht allzu weiten Korridor um den jeweiligen Durchschnittswert. (s. die in Osigus 2021b online verfügbare Abbildung „Durchschnittliche z-Werte der Dimensionsindices für alle Untersuchungslandkreise und -gemeinden“Footnote 12). Bei den Einzelwerten aller Gemeinden in den vier Untersuchungsbundesländern für die Dimensionen „Arbeit“, „Wohnen“, „Wohlstand“ sowie „Demographie“ liegen, je nach Dimension, 72 bis 97 % aller Werte innerhalb des Bereichs zwischen −0,7 und 0,7. Im weiter gefassten Bereich zwischen −1,0 und 1,0 befinden sich, je nach Dimension, 89 bis 99 % aller Gemeinden. In Bezug auf unsere Untersuchungsgemeinden zeigt sich, dass diese keine Extremfälle innerhalb ihres jeweiligen Bundeslandes darstellen (s. Osigus et al. 2019, S. 170).

4 Erreichbarkeitsanalysen

Ländlichen Regionen wird oft der integrationsrelevante Vorteil zugeschrieben, über Wohnraum zu verfügen, um Geflüchtete dezentral unterzubringen. Der Nachteil einer solchen Unterbringung kann jedoch in teilweise fehlenden oder vom konkreten Unterbringungsort schwer erreichbaren Infrastrukturen vor Ort liegen. Dies kann letztendlich Auswirkungen auf die individuellen Teilhabechancen von Geflüchteten haben. Ausgehend von der Annahme, dass Alltagsmobilität eine wichtige Voraussetzung für das Bleiben sowie die Teilhabe am ökonomischen, politischen und sozialen Leben in ländlichen Regionen ist (Kumar 2002; Kenyon et al. 2002; Cass et al. 2005), haben wir modellgestützt analysiert, wie sich der Zugang zu wichtigen Infrastrukturen in Abhängigkeit vom Unterbringungsort innerhalb und im Vergleich zwischen den Untersuchungsregionen gestaltet.

4.1 Erreichbarkeitsanalysen: Methodik

Die Erreichbarkeit integrationsrelevanter Einrichtungen wurde mit dem Thünen-Erreichbarkeitsmodell berechnet (Neumeier 2020). Bei diesem werden Erreichbarkeiten über einen sogenannten Rasteransatz mit Methoden der Geoinformatik im Straßennetz sowie Verkehrswegenetz des öffentlichen Personen(nah)verkehrs (ÖPNV) modelliert. Dabei wird ein kleinräumiges Vektorraster (Grid) über das Untersuchungsgebiet gelegt und anschließend für jeden Zentroid die Erreichbarkeit zum nächsten Standort einer untersuchten Infrastruktur bestimmt. Das Ergebnis wird der Zelle dann als Erreichbarkeitsmaß zugeschrieben. Im Gegensatz zu Ansätzen, bei denen geographische Erreichbarkeiten für IsochronenFootnote 13 berechnet werden, die innerhalb der entstehenden „Reisezeitflächen“ keine weiteren Differenzierungen erlauben, bietet der hier gewählte Ansatz den Vorteil, dass damit, bei Wahl einer geeigneten Maschenweite, Erreichbarkeiten unterhalb der administrativen Ebenen analysiert werden können und sich so intraregionale Erreichbarkeitsunterschiede in Gemeinden oder Kreisen aufdecken lassen.

Das Thünen-Erreichbarkeitsmodell bildet wohnortnahe Erreichbarkeiten ab – also Erreichbarkeiten, wie sie sich für die Bevölkerung und in den Untersuchungslandkreisen untergebrachten Geflüchteten darstellen –, nicht Einzugsbereiche ausgehend von den Standorten der Infrastrukturen. Konkret wurde ein Grid mit einer Kantenlänge von 250 × 250 m verwendet. Um die Erreichbarkeiten mit der betroffenen Bevölkerung in Beziehung setzen zu können, wurden außerdem Bevölkerungsdaten des Zensus 2011 in das Raster projiziert. Um die Datenmenge zu reduzieren, erfolgte die Erreichbarkeitsberechnung in einem zweistufigen Verfahren. Zunächst wurden für jeden Zentroid des Grid über eine K-Nearest-Neighbour-Analyse (KNN)Footnote 14 die zehn nach euklidischer Distanz nächsten Standorte einer zu untersuchenden Dienstleistung ermittelt. In einem zweiten Schritt erfolgte dann die Selektion der kürzesten Wegezeit/Distanz als Erreichbarkeitsmaß für die Grid-Zelle.

Im Erreichbarkeitsmodell Straße erfolgt die Berechnung mit Hilfe der Open Source Routing Machine im Straßennetz der OpenStreetMap mittels des Multi-Level Dijkstra-Algorithmus. Den im Erreichbarkeitsmodell ermittelten Pkw-Wegezeiten liegen die „Geschwindigkeitsprofile Straße“ der OpenStreetMap zugrunde. Die Fahrrad- und fußläufigen Wegezeiten wurden anhand der Wegelängen mit einer durchschnittlichen Fahrgeschwindigkeit von 15 km/h für das Fahrrad und einer Gehgeschwindigkeit von 1,3 m/sFootnote 15 bestimmt. Berechnet wurden die Erreichbarkeiten jeweils für Deutschland gesamt, sodass auch Infrastrukturstandorte, die außerhalb der eigentlichen Untersuchungslandkreise liegen, erfasst wurden.

Im Erreichbarkeitsmodell ÖPNV wurde die Wegezeit für das Zeitfenster Dienstag zwischen 9 und 10 Uhr mit Hilfe der OpenTripPlanner APIFootnote 16 auf Basis des Verkehrsnetzes der OpenStreetMap sowie der Soll-Fahrplandaten des ÖPNV in den Untersuchungsregionen im „Google Transit Feed Specification“-Format (GTFS) mittels eines „Generalized cost A*-Algorithmus“ berechnet. Berücksichtigt wurden die ÖPNV-Fahrzeit inklusive der fußläufigen Wegezeit zur/von der Haltestelle zu den Zielen.Footnote 17 Eine Modellierung für die Landkreise Werra-Meißner-Kreis und Waldeck-Frankenberg in Hessen sowie Regen in Bayern war nicht möglich, da für diese Kreise keine GTFS-Fahrplandaten erhältlich waren. Die ÖPNV-Erreichbarkeiten wurden – mit Ausnahme Niedersachsens, wo die Berechnung nur für die Untersuchungslandkreise erfolgte – aufgrund der Datenverfügbarkeit jeweils für das Gebiet der Verkehrsverbünde berechnet.

Konkret wurde die Erreichbarkeit folgender Infrastrukturen näher betrachtet (Neumeier 2019): Supermärkte und Discounter, Kindergärten, allgemeinbildende Schulen (Grundschulen, Schulen mit Sekundarstufe I und II), Jobcenter, öffentliche Apotheken, Krankenhäuser, Hausärzt*innen, Kinderärzt*innen, Zahnärzt*innen, ambulante Pflegedienste, Landespolizeien, ÖPNV-Haltestellen, zentrale Orte (Unterzentren, Mittel- und Oberzentren).

4.2 Bevölkerungsgewichtete Erreichbarkeit: Ergebnisse

Um basierend auf den Ergebnissen der differenzierten Erreichbarkeitsbetrachtungen zu einer zwischen den Untersuchungskreisen und -gemeinden vergleichbaren Einschätzung der globalen Erreichbarkeitssituation zu gelangen, wurden die Erreichbarkeiten der einzelnen analysierten Infrastrukturen zu einem Index „mittlere bevölkerungsgewichtete Erreichbarkeit“ zusammengefasst.Footnote 18 Dieser Index beschreibt die Erreichbarkeitssituation, wie sie sich für die Mehrheit der Bevölkerung innerhalb der Gemeinden der Untersuchungslandkreise darstellt. Berechnet wird er durch die Summe der mit den Wegezeiten multiplizierten Bevölkerung der Zellen des Analyserasters, die in einem Untersuchungsgebiet liegen, dividiert durch die Gesamtbevölkerung im Untersuchungsgebiet. Das Ergebnis ist in Abb. 2.1 zusammengefasst, welche die Verteilung der bevölkerungsgewichteten Wegezeit auf Ebene der acht Untersuchungslandkreise, differenziert nach Verkehrsmitteln, vergleichend dargestellt.

Abb. 2.1
figure 1

Verteilung der bevölkerungsgewichteten Wegezeit in den Untersuchungslandkreisen, differenziert nach Verkehrsmitteln. (Quelle: Eigene Berechnung auf Basis des Thünen-Erreichbarkeitsmodells)

Dabei zeigt sich für die Untersuchungslandkreise: Die Erreichbarkeit integrationsrelevanter Einrichtungen hängt stark vom nutzbaren Verkehrsmittel ab. Ein ähnliches Bild wie beim Vergleich auf der Ebene der Kreise ergibt sich bei der Betrachtung der bevölkerungsgewichteten Wegezeiten auf der Ebene der Gemeinden (s. die in Neumeier (2021a) online verfügbare Tabelle „Durchschnittliche bevölkerungsgewichtete Wegezeit in den Untersuchungslandkreisen und ausgewählten kreiseigenen Gemeinden, differenziert nach Verkehrsträgern, in Minuten“Footnote 19).

  • Per Pkw lassen sich auf Kreisebene die untersuchten Einrichtungen für die Mehrheit der Bevölkerung in einer Fahrzeit zwischen 4,4 Minuten (Landkreis Vechta) und 6,2 Minuten (Landkreis Regen) erreichen, auf Gemeindeebene sind es zwischen 3 Minuten (Bad Düben) und 8 Minuten (Gallmersgarten).

  • Mit dem Fahrrad kann der Großteil der Bevölkerung die Infrastrukturen auf Kreisebene im Mittel zwischen 12 Minuten (Landkreis Vechta) und 17,9 Minuten (Landkreis Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim) erreichen, auf Gemeindeebene sind es zwischen 8,2 Minuten (Bad Windsheim) und 30,7 Minuten (Burghaslach).

  • Fußläufig kann der Großteil der Bevölkerung die Infrastrukturen auf Kreisebene im Mittel zwischen 38,4 Minuten (Landkreis Vechta) und 57 Minuten (Landkreis Regen) erreichen, auf Gemeindeebene sind es zwischen 26,3 Minuten (Bad Windsheim) und 98,4 Minuten (Burg-haslach).

  • Per ÖPNV kann der Großteil der Bevölkerung die Infrastrukturen auf Kreisebene im Mittel zwischen 11,7 Minuten und 19,1 Minuten erreichen. Auf Ebene der Gemeinden zwischen 8,2 Minuten (Bad Düben) und 26,2 Minuten (Burghaslach). Die Gemeinden Burghaslach und Gallmershagen im Landkreis Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim und Holdorf und Neuenkirchen-Vörden im Landkreis Vechta weisen die schlechtesten ÖPNV-Erreichbarkeiten aller Untersuchungsgemeinden auf. Fast 10 Minuten mehr als in den übrigen Untersuchungsgemeinden benötigt die Mehrheit der Bevölkerung hier, um mit dem ÖPNV Infrastrukturen der Grundversorgung zu erreichen.

Auf Kreis- wie Gemeindeebene haben Menschen, die einen Pkw nutzen können, die kürzesten Wegezeiten.Footnote 20 Ob das Fahrrad oder der ÖPNV die zweitbeste Option darstellt, ist abhängig von der betrachteten Region: Auf Ebene der Kreise betrachtet sind in den Kreisen Vechta und Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim mit dem ÖPNV ähnliche Erreichbarkeiten festzustellen wie mit dem Fahrrad. In den Kreisen Northeim, Nordsachsen und Bautzen ist dagegen die ÖPNV-Erreichbarkeit vorteilhafter.Footnote 21 Auf Ebene der Gemeinden ist die Fahrrad-Erreichbarkeit in den meisten Gemeinden nur geringfügig schlechter als diejenige mit dem ÖPNV. Ausnahmen sind die Gemeinde Bad Windsheim im Landkreis Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim und die Untersuchungsgemeinden im Landkreis Vechta. Durchweg schlecht schneiden auf beiden Betrachtungsebenen die fußläufigen Erreichbarkeiten ab.

Zusätzlich veranschaulicht werden kann die Erreichbarkeitssituation am Beispiel der Erreichbarkeit des nächsten JobcentersFootnote 22 in der in Neumeier (2021b) online verfügbaren Abbildung „Pkw-, fußläufige- und ÖPNV-Erreichbarkeit des nächsten Jobcenters in den Untersuchungslandkreisen“.Footnote 23 Diese zeigt die Erreichbarkeit des nächsten Jobcenters jeweils für die Verkehrsträger „Pkw“, „Fuß“ und „ÖPNV“. Auch hier zeigen sich deutliche Erreichbarkeitsunterschiede in Abhängigkeit vom nutzbaren Verkehrsträger und innerhalb der Kreise und Gemeinden in Abhängigkeit vom konkreten Wohnort. Ohne Pkw müssen z. T. sehr lange An-/Abreisezeiten zum dem Wohnort zugeordneten Jobcenter in Kauf genommen werden. Obwohl sich die regionalen Erreichbarkeitsmuster bei anderen untersuchten Infrastrukturen in Abhängigkeit von ihrer Standortdichte und räumlichen Verteilung unterscheiden, sind die am Beispiel der Jobcentererreichbarkeit festgestellten verkehrsträgerabhängigen Erreichbarkeitsunterschiede in ähnlicher Weise auch dort gegeben (s. Neumeier 2019).

Die detaillierte Betrachtung der Erreichbarkeitssituation zeigt zum einen deren Abhängigkeit vom konkreten Wohnort innerhalb des Landkreises und zum anderen die Vorteile einer Pkw-Nutzung: In allen Landkreisen und unabhängig vom Wohnort können Einrichtungen der (Grund-)Versorgung innerhalb einer akzeptablen ReisezeitFootnote 24 erreicht werden. Anders sieht das Bild bei den Verkehrsträgern „Fahrrad“, „Fuß“ und „ÖPNV“ aus. Bei Nutzung des Fahrrads muss ein relativ großer Anteil der Bevölkerung in allen Untersuchungslandkreisen mit Wegezeiten länger als 15 Minuten rechnen. Die Erreichbarkeit mit dem ÖPNV liegt in der Landkreisbetrachtung etwas über derjenigen mit dem Fahrrad. Fußläufig sind für die Mehrheit der Bevölkerung Infrastrukturen der (Grund-)Versorgung außerhalb der Siedlungszentren de facto kaum erreichbar. Für Geflüchtete, die nicht über einen Pkw verfügen oder nicht in fußläufiger Entfernung zu einer ÖPNV-Haltestelle wohnen, dürfte daher die Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge in allen Untersuchungsregionen z. T. mit einem vergleichsweise hohen Zeitaufwand verbunden sein, sich z. T. sogar problematisch darstellen.

5 Zusammenfassung und Fazit

Die hier vorgelegte Analyse der integrationsrelevanten Rahmenbedingungen in und zwischen den Untersuchungslandkreisen zielt darauf ab, ein empirisch fundiertes Bild der Untersuchungslandkreise und -gemeinden zu vermitteln und insbesondere eine vergleichende Einordnung der jeweils spezifischen Ausgangssituation zu ermöglichen. Dazu zählt auch die Erreichbarkeit wichtiger Orte als wichtiger Faktor insbesondere in ländlichen Regionen. Leitend hierfür war die Annahme, dass wirtschaftlich und sozial unterschiedliche Bedingungen integrationsrelevant sein können, weil sie die Teilhabechancen Geflüchteter und die lokalen Handlungsmöglichkeiten in den Untersuchungslandkreisen und -gemeinden beeinflussen.

Die als integrationsrelevant angenommenen sozioökonomischen Unterschiede zwischen den untersuchten Landkreisen und Gemeinden wurden in acht Dimensionen und anhand von 20 Indikatoren ermittelt und verglichen. Sie zeigen vielfältige Unterschiede zwischen den untersuchten Landkreisen und Gemeinden bei einzelnen Dimensionen und Indikatoren und deren spezifisches Stärken-Schwächen-Profil. In der Gesamtschau aller Dimensionen bewegt sich aber der überwiegende Teil der betrachteten Gemeinden bei der Mehrzahl der Dimensionen in einem nicht allzu weiten Korridor um den jeweiligen Durchschnittswert.

Die Erreichbarkeitsanalysen verdeutlichen, dass die Mobilitätssituation entscheidend von der individuellen Handlungsbefähigung (Agency) der geflüchteten Menschen und dem jeweiligen Wohnort im Landkreis abhängt. Während die Agency der Geflüchteten ganz maßgeblich vom Zugang zur Kfz-Mobilität beeinflusst wird, sind die Erreichbarkeitsverhältnisse zwischen den Gemeinden sehr unterschiedlich. Unterschiede gibt es sogar innerhalb von Gemeinden, je nachdem, ob man im zentralen Ort einer Flächengemeinde mit vergleichsweise guter Infrastruktur und Mobilitätsanbindung wohnt oder in einem der Ortsteile, in dem keines von beiden gegeben ist. Diese Unterschiede kommen dann zum Tragen, wenn Geflüchtete auf das Fahrrad oder den ÖPNV angewiesen sind. Bei peripher gelegenem und schlecht angebundenem Wohnstandort sind wichtige Einrichtungen dann häufig nur schwer zu erreichen, was die Teilhabechancen beeinträchtigt.

Insgesamt ergibt sich ein auf Daten, Indikatoren und Erreichbarkeitsanalysen gestütztes differenziertes Bild integrationsrelevanter Rahmenbedingungen in den 35 UntersuchungsgemeindenFootnote 25 und acht -landkreisen, das auch die Unterschiede innerhalb der Landkreise anschaulich macht. Die Betrachtung der Gesamtsituation in den vier Untersuchungsländern verdeutlicht, dass die ausgewählten Untersuchungslandkreise und -gemeinden keine Extremfälle in ihren jeweiligen Bundesländern darstellen, sondern ein relativ zutreffendes Bild für die Gemeinden der jeweiligen Bundesländen insgesamt vermitteln können.

Integrationsrelevante Rahmbedingungen wirken nicht direkt auf Integrationsbemühungen und -erfolge, sondern werden hier als erschwerende oder erleichternde Umstände verstanden. Infolgedessen sind die jeweiligen integrationsrelevanten Rahmenbedingungen maßgeblich aus der Wahrnehmung der in ihnen agierenden Menschen bzw. deren Umgang damit zu bewerten und die „objektive“ Situationsbeschreibung der Indikatoren ist mit der subjektiven Wahrnehmung abzugleichen. Entsprechende Erweiterungen der in diesem Kapitel vorgenommenen Auswertungen von Indikatoren und Erreichbarkeitsanalysen finden sich in den folgenden Kapiteln aus der Perspektive der Geflüchteten (Kap. 3), der lokalen Migrationspolitik (Kap. 4) sowie der Aufnahmegesellschaft (Kap. 5). Kap. 6 (Bleibeorientierung und Haltestrategien) untersucht, inwiefern die sozioökonomische Lage die stark divergierenden Gebliebenenquoten Geflüchteter in den Untersuchungsregionen erklären kann. In Kap. 7 werden die Erreichbarkeitsanalysen erneut im Kontext der Frage aufgegriffen, wovon gelingende Alltagsmobilität als Teilhabefaktor in den Untersuchungsregionen abhängt, und multiperspektivisch vertieft.