Die Bio-Branche hat sich von Beginn an als gerechte, ökologische und sozial faire Wirtschaft verstanden. Doch wird das heute auch so gelebt? Fünf Trainees aus dem Traineeprogramm Ökologische Land- und Lebensmittelwirtschaft haben sich mit der Frage beschäftigt, wie Gerechtigkeit eigentlich in der ökologischen Lebensmittelkette verankert ist und gelebt wird.
Oekolandbau.de: Was bedeutet denn nun Gerechtigkeit in der Bio-Wertschöpfungskette?
L. Kehl: Es wurde deutlich, dass jede Person immer nur den Blick auf ihren eigenen Punkt und die Personen direkt davor oder dahinter innerhalb der Kette legt. Ich habe zum Beispiel mit der Inhaberin eines Reformhauses gesprochen und dem Geschäftsführer eines Verarbeitungsunternehmens. Es wurde klar, wie schwammig der Begriff der Gerechtigkeit doch ist. Jeder beschreibt ihn anders. Die Ladnerin nannte Transparenz, vor allem hin zu Verbraucherinnen und Verbrauchern. Der Verarbeiter nannte vor allem Wertschätzung. Und am Ende kommt man doch immer wieder zum Thema Geld, weil es die Währung ist, die unsere Wirtschaft kennt.
C. Proetzel: Ich habe mit zwei Landwirtinnen gesprochen und fand es interessant, dass es beim Thema Gerechtigkeit hier viel um Chancengleichheit ging. Es ist ein Drahtseilakt zwischen der Selbstverwirklichung und Liebe für den eigenen Beruf, aber gleichzeitig dem Wissen, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeitsleben und privatem Leben kaum möglich ist. Insbesondere bei Tierhaltungsbetrieben ist es nicht mit der 40 Stunden Woche getan. Zudem gibt es in der Landwirtschaft meist keine Bezahlung, die ein lebenswertes Privatleben wirklich ermöglicht. Und auch das Thema Frauen spielt hier eine Rolle: Selbst im Jahr 2021 haben wir nur circa 10 Prozent Betriebsleiterinnen. Da kann von Chancengleichheit nicht die Rede sein.
Oekolandbau.de: Was für Erkenntnisse habt ihr für euch durch die Interviews erlangt?
R. Pierro: Ich habe vor allem gemerkt, dass das Vertrauen und die Offenheit, welche wir in der Bio-Branche haben und pflegen eine sehr große Chance ist. Ich war überrascht, mit welcher Offenheit und auch Bereitschaft die Expertinnen und Experten mit uns gesprochen haben, obwohl es wirklich kein einfaches Thema ist. Es wurde klar, dass Veränderung nur gemeinsam erreicht werden kann, aber eben die Chance der Bio-Branche in dem liegt, was sie von Anfang an auszeichnet – gemeinsam über die gesetzlichen Standards hinaus zu gehen.
C. Bardenheuer: Es ist spürbar, dass mit dem zunehmenden Wachstum der Bio-Branche ein Abdriften in konventionelle Strukturen stattfindet. Damit wird das Machtgefälle, das im gesamten Lebensmittelsektor besteht, nur noch deutlicher. Um dem entgegen zu wirken, braucht es mehr Ernährungsbildung für Verbraucherinnen und Verbraucher – ein besseres Wissen und Verständnis für die Lebensmittelerzeugung und Herstellung. Das hat auch viel mit Wertschätzung und der Begegnung auf Augenhöhe zu tun. Die Landwirtschaft, aber auch das Lebensmittelhandwerk wird nicht in dem Rahmen wertgeschätzt, wie sie müssten.
K. Tietz: Dass es ab einer bestimmten Betriebsgröße mehr darum geht effizient zu wirtschaften, anstatt den ökologischen Pioniergedanken einer ganzheitlichen und gerechten Land- und Lebensmittelwirtschaft umzusetzen. Es wird dann eine konventionelle Wirtschaftsweise mit ökologischen Mitteln betrieben, um wirtschaftlicher zu sein und dem Preisdruck standhalten zu können. Der Preis muss die Wertschätzung für das Lebensmittel, die Arbeitskraft, die Leidenschaft sowie die positiven Externalitäten für die Umwelt widerspiegeln und von den Verbraucherinnen und Verbrauchern auch gezahlt werden. Erst dann kann sich ein gerechtes System etablieren.
Oekolandbau.de: Wo seht ihr denn die größten Hebel für Veränderung oder habt ihr sogar einen konkreten Wunsch?
Alle: Gerecht handeln darf kein Nachteil sein. Es braucht mehr Kommunikation und Transparenz, zum Beispiel zum Thema wahre Preise. Nehmen wir das Beispiel der Milch von "Du bist hier der Chef". Dieses Produkt wurde gemeinsam mit Verbraucherinnen und Verbrauchern entwickelt und ist in der Preisgestaltung komplett transparent. So viel muss die Milch kosten, um die Erwartungen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu erfüllen. Es gibt aber einige vergleichbare Bio-Produkte am Markt, die günstiger sind.
Im Kontext der Richtlinie zu unlauteren Handelspraktiken wird über einen Minimum Preis für Lebensmittel diskutiert, welcher unter anderem bestimmte Produktionskosten abdeckt, um zu verhindern, dass Lieferantin oder Lieferant ein Minus-Geschäft machen. In Spanien gibt es zum Beispiel ein System von Referenzpreisen.
Wir merken, dass für den Einzelnen ein gewisses Gefühl der Machtlosigkeit besteht. Vieles existiert in der Theorie, aber wenig wird in die Praxis umgesetzt. Uns ist natürlich bewusst, dass nicht alle der vier IFOAM Prinzipien in den rechtlichen Vorgaben verankert sind. Aber wie wäre es, wenn diese zumindest bei den privaten Standards alle gleichberechtigt zur Geltung kämen? Wenn ein Betrieb oder ein Unternehmen, dass seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht fair behandelt und nicht wertschätzend mit Lieferantinnen und Lieferanten umgeht, sein Zertifikat verliert? Das wäre natürlich ein Systemwechsel – aber so würde die Bio-Branche ihre Integrität behalten. Wir sehen den Generationswechsel, wie er aktuell stattfindet in unserer Branche, als große Chance. Die Unternehmens- und Betriebsnachfolgerinnen und -nachfolger haben die Chance, menschliche Werte wieder mehr einzubringen, in ihrem wirtschaftlichen Tun zu verankern und die Diskrepanz zwischen dem Ideal und der Wirtschaft nicht einfach nur zu akzeptieren.