Arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen
Körperliche Belastungen beispielsweise durch ungünstige Körperhaltung oder schweres Heben und Tragen stellen nach wie vor gesundheitliche Gefährdungen für Beschäftigte dar. Daher müssen sie in der Gefährdungsbeurteilung und in der arbeitsmedizinischen Vorsorge berücksichtigt werden.
Körperliche Anforderungen im Beruf wie das Heben von Lasten sind nach wie vor an vielen Arbeitsplätzen häufig. In der aktuellen BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 gaben rund 23 Prozent der Erwerbstätigen an, häufig schwere Lasten zu heben und zu tragen. Jede/-r Sechste arbeitet häufig in Zwangshaltungen, also gebückt, hockend, kniend, liegend oder über Kopf. Mehr als jede/-r Zweite arbeitet häufig im Stehen und rund 39 % führen häufig Arbeiten mit den Händen aus. Rund ein Viertel der Arbeitsunfähigkeitstage sind auf Muskel-Skelett-Erkrankungen zurückzuführen. Besonders betroffen sind Beschäftigte in manuellen und gewerblichen Berufen sowie im Dienstleistungsbereich. Unsere Forschung beleuchtet die Häufigkeiten von Muskel-Skelett-Erkrankungen, untersucht Interventionsansätze und trägt zur Weiterentwiclklung der Gefährdungsbeurteilung in den Betrieben bei. Die Ergebnisse bringen wir auf nationaler und europäischer Ebene in die Politikberatung ein.
Video: Forschung konkret
Der BAuA-Wissenschaftler Dr. Falk Liebers beantwortet drei Fragen zum Thema "Muskel-Skelett-Erkrankungen und Prävention".
3 Fragen zum Thema "Muskel-Skelett-Erkrankungen und Prävention"
Muskel-Skelett-Erkrankungen in der Arbeitswelt
Die folgenden Informationen fassen den Wissensstand und zentrale Präventionsmaßnahmen zu arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen zusammen.
Was versteht man unter physischer körperlicher Belastung?
Diese Belastungsart umfasst im Sinne des Belastungs-Beanspruchungs-Konzepts jede Form der körperlichen Belastung. Sie ist mit motorischen, biomechanischen und kardio-pulmonalen Anforderungen verbunden, d. h. mit Belastungen des Muskel-Skelett-Systems und des Herz-Kreislauf-Systems. Körperliche Anstrengung ist alltäglich und notwendig, um gesund zu bleiben. Das Muskel-Skelett-System und das Herz-Kreislauf-System müssen trainiert werden. Körperliche Überbeanspruchung ist möglich, wenn motorische Anforderungen oder statische Haltungsanforderungen von Beschäftigten aktiv ausgeführt werden und die Belastbarkeit kurzfristig oder über längere Zeiträume überschritten wird.
Typische körperliche Belastungen sind das Heben, Halten und Tragen von Lasten, repetitive, d. h. häufig wiederkehrende, monotone manuelle Arbeiten mit den Händen oder Arbeiten in Zwangshaltungen. Die Höhe der Belastung ergibt sich aus vielen verschiedenen Faktoren, z. B. dem Gewicht der Last oder der aufzubringenden Kraft. Die Belastungen können individuell sehr unterschiedlich sein. Kraft, Ausdauer, Geschicklichkeit, Geschwindigkeit und Körpergröße können stark variieren. Bewegungsabläufe werden unterschiedlich gut beherrscht. Aspekte wie die Arbeitstechnik spielen eine Rolle. Hinzu kommen alters- und geschlechtsspezifische sowie entwicklungsphysiologische Aspekte, z. B. das noch nicht abgeschlossene Skelettwachstum bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Ursachen und Zusammenhänge
Körperliche Belastungen können zu biomechanischen Überbeanspruchungen führen und damit die Gesundheit gefährden. Es kann kurz- und langfristig zu Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems kommen, wie z. B. Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule durch schweres Heben und Tragen. Zusammenhänge und Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen körperlichen Belastungen am Arbeitsplatz und Beschwerden sowie Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) sind seit langem bekannt und durch systematische Übersichtsarbeiten belegt. So konnten Zusammenhänge zwischen dem Heben und Tragen von Lasten sowie dem Arbeiten in gebeugter Körperhaltung und degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule nachgewiesen werden. Ähnliche Zusammenhänge bestehen zwischen Lastenhandhabung und dem Auftreten von Hüftgelenksarthrose sowie zwischen kniender Körperhaltung bzw. Körperbewegung und Meniskopathien (Abnutzung der Menisken im Kniegelenk). Von Bedeutung sind Belastungen durch Lastenhandhabung sowie kniende Tätigkeiten und das Auftreten von Arthrose im Kniegelenk. Im Bereich der oberen Extremitäten konnten Assoziationen zwischen Überkopfarbeit und Schädigungen der Schulter sowie zwischen repetitiven manuellen Tätigkeiten und spezifischen Erkrankungen der oberen Extremitäten nachgewiesen werden.
Unabhängig von körperlichen Anforderungen können Muskel-Skelett-Erkrankungen im Zusammenhang mit der Arbeit auch durch physikalische Expositionen (z. B. mechanische Schwingungen), klimatische Einwirkungen (z. B. Kälte) oder auch Gefahrstoffe (z. B. Cadmium, Fluor, Phosphor, Halogenkohlenwasserstoffe) verursacht werden.
Monitoring der Belastung und Beanspruchung
Körperliche Belastungen am Arbeitsplatz und damit verbundene Beschwerden sind bei Erwerbstätigen insgesamt und insbesondere bei Beschäftigten in manuellen Berufen, in der Landwirtschaft, im Baugewerbe und in Dienstleistungsberufen häufig. Die engen Zusammenhänge zwischen körperlich belastenden Tätigkeiten wie Heben und Tragen, manuellen Tätigkeiten und Arbeiten in Zwangshaltungen und dem Auftreten von Beschwerden konnten aktuell in der Erwerbsbevölkerung z. B. mit den Daten der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 nachgewiesen werden.
Gefährdungsbeurteilung bei körperlicher Belastung
Grundlage für die Prävention von arbeitsbedingten Erkrankungen und Berufskrankheiten ist der Prozess der Gefährdungsbeurteilung im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes, aus dem sich die Ableitung von technischen, organisatorischen und persönlichen Schutzmaßnahmen sowie die arbeitsmedizinische Vorsorge ergeben. Für die Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen stehen vielfältige Methoden zur Verfügung. Sie unterstützen in der Regel den ersten Schritt der Gefährdungsbeurteilung, die Analyse und Bewertung. Sie richten sich an betriebliche Akteur/-innen, Wissenschaftler-/innen und Betriebsärzt/-innen.
In diesem Zusammenhang wurde von der BAuA gemeinsam mit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) das Kooperationsprojekt "Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz" (MEGAPHYS) durchgeführt.
Ein wichtiges Ergebnis des Projekts ist die Einigung auf ein einheitliches Risikokonzept für die Einstufung körperlicher Belastungen. Das Modell wird unabhängig von der Art der Belastung und der Ebene der Gefährdungsbeurteilung verwendet. Das Risikokonzept ermöglicht die Zuordnung von Belastungsstufen zur Wahrscheinlichkeit einer körperlichen Überbeanspruchung, zu den möglichen gesundheitlichen Folgen und zu den erforderlichen Präventionsmaßnahmen. Einheitlich wird die Belastungshöhe (Intensität) mit Hilfe einer Ampel als gering, mäßig erhöht, wesentlich erhöht und hoch belastet eingestuft.
Ein weiteres Ergebnis des Projekts MEGAPHYS ist eine einheitliche Unterteilung der körperlichen Belastung in die folgenden sechs Belastungsarten:
- Manuelles Heben, Halten und Tragen von Lasten (ab 3 kg Lastgewicht)
- Manuelles Ziehen und Schieben von Lasten (mit Flurförderzeugen)
- Manuelle Arbeitsprozesse (repetitive Arbeiten mit den Händen, bis zu 3 kg Last)
- Ausübung von Ganzkörperkräften (z. B. Bedienen großer Hebel)
- Körperzwangshaltung (z. B. Knien oder Überkopfarbeit)
- Körperfortbewegung (z. B. Klettern, Steigen oder Fahrradfahren)
- Für jede dieser sechs Belastungsarten wurden im Projekt MEGAPHYS auf der Ebene des Screenings neue Leitmerkmalmethoden (LMM) entwickelt bzw. bestehende LMM angepasst und erprobt.
Für die betriebliche Praxis ist es ein wichtiger erster Schritt zu erkennen, ob an einem Arbeitsplatz überhaupt eine erhöhte körperliche Belastung vorliegt. Als Hilfestellung können hierzu ein Basis-Check und ein Einstiegsscreening der BAuA genutzt werden. Weitere Informationen finden Sie im Bereich Gefährdungsbeurteilung der BAuA-Website.
Arbeitsmedizinische Vorsorge zur Prävention der Folgen körperlicher Belastung
Ein wichtiges Instrument in der Prävention der Folgen körperlicher Fehlbelastung ist auch die arbeitsmedizinische Aufklärung und Beratung der betroffenen Beschäftigten im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Seit 2013 sieht die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) einen entsprechenden Vorsorgeanlass vor: Arbeitgeber/-innen müssen arbeitsmedizinische Vorsorge anbieten (Angebotsvorsorge), wenn wesentlich erhöhte oder hohe körperliche Belastungen durch manuelle Lastenhandhabung, manuelle Arbeitsprozesse sowie Arbeiten in ungünstigen Körperhaltungen vorliegen. Die Arbeitsmedizinische Regel AMR 13.2 "Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen Belastungen mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System" konkretisiert den Begriff "wesentlich erhöhte Belastung". Die neue AMR 13.2 wurde vom Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed) nach Vorliegen der Ergebnisse des Projekts MEGAPHYS überarbeitet und 2022 neu veröffentlicht. Die AMR 13.2 beschreibt Belastungen des Muskel-Skelett-Systems auf Basis der im Projekt MEGAPHYS einheitlich definierten Belastungsarten. Das vierstufige Risikokonzept (gering, mäßig erhöht, wesentlich erhöht und hoch belastet) zur Beschreibung der Belastungshöhe und der Wahrscheinlichkeit des Auftretens körperlicher Überbeanspruchung wurde in der AMR 13.2 aktualisiert. Abhängig von der Risikostufe wird spezifiziert, ob Maßnahmen der Arbeitsplatzgestaltung, der Vorsorge oder anderer Präventionsmaßnahmen notwendig oder zu empfehlen sind. Wunschvorsorge nach § 11 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) sowie ArbMedVV können Beschäftigte immer in Anspruch nehmen. Ab dem Risikobereich "wesentlich erhöhte Belastungen" muss die Arbeitgeberin bzw. der Arbeitgeber Vorsorge anbieten. Die LMM werden hier als Screening-Verfahren der vertiefenden Gefährdungsbeurteilung und das Einstiegsscreening als Grobscreening-Methode zum Erkennen körperlicher Belastungen genannt.
Die AMR 13.2 ist nicht nur ein Instrument für die arbeitsmedizinische Vorsorge, sondern ermöglicht ein abgestuftes Vorgehen zur betrieblichen Festlegung von Schutzmaßnahmen.
Aus arbeitsmedizinischer Sicht ist es wichtig, dass die o. g. Leitmerkmalmethoden und das Eingangsscreening genutzt werden können, um die körperlichen Anforderungen eines Arbeitsplatzes zu dokumentieren, damit die funktionellen/körperlichen Anforderungen im Zusammenhang mit bestehenden funktionellen Einschränkungen zu beurteilen und damit die Beschäftigten im Rahmen der Vorsorge gezielt zu Aspekten der Arbeitsfähigkeit beraten zu können.
Die arbeitsmedizinische Vorsorge sollte immer alle Arbeitsbelastungen einbeziehen, z. B. klimatische Belastungen, Lärm oder psychosoziale Anforderungen. Arbeitsbelastungen müssen daher im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge ganzheitlich betrachtet werden. Der AfAMed hat hierzu die arbeitsmedizinische Regel AMR 3.3 erarbeitet. Die BAuA untersucht den Aspekt des ganzheitlichen Vorgehens in der Vorsorge im Forschungsprojekt F 2522.
Um Muskel-Skelett-Beschwerden (MSB) standardisiert z. B. in Betriebsbefragungen oder in der arbeitsmedizinischen Vorsorge erfassen zu können, wurde von der BAuA in Kooperation mit der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) Fragebogen zur Erfassung von MSB neu entwickelt. Der neue Fragebogen wurde im Rahmen des BAuA-Projekts F 2457 praktisch erprobt und getestet.
Für Arbeitsmediziner/-innen stehen im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge für die systematisierte Anamnese z. B. der Work Ability Index sowie für die orthopädisch-klinische Untersuchung standardisierte Untersuchungsschemata und -empfehlungen zur Verfügung.
Prävention von arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen
Die Möglichkeiten zur Prävention von MSE in der Arbeitswelt sind vielfältig. Sowohl primär-, sekundär- und tertiärpräventive Ansätze als auch verhaltens- und verhältnispräventive Ansätze sind sinnvoll und können im betrieblichen Gesundheitsmanagement berücksichtigt werden.
Für die Prävention von MSE sind folgende Handlungsfelder von Bedeutung:
- Gesundheitsgerechte Gestaltung der Arbeits-/Leistungsbedingungen - Ergonomie
- Durchführung einer komplexen Gefährdungsbeurteilung zur Ermittlung und Bewertung von Belastungen des Muskel-Skelett-Systems einschließlich der Ableitung von arbeitsplatzbezogenen, organisatorischen und mitarbeiterbezogenen Maßnahmen
- Kollektive Beratung, Schulung, Unterweisung und Training von Beschäftigten zu Arbeitsbedingungen, bei denen es zu Belastungen des Muskel-Skelett-Systems kommen kann
- Individuelle Beratung der Beschäftigten mit Schwerpunkt Muskel-Skelett-System und zur Früherkennung individueller Risikofaktoren wie Ernährung und Bewegung, z. B. im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge; Inanspruchnahme von (berufs-)rehabilitativen Maßnahmen
- Individuell angepasste Maßnahmen der Gesundheitsförderung, z. B. Bewegungsprogramme (einschließlich gesundheitspädagogischer Konzepte)
- Betriebliche Eingliederungsprogramme; Beschäftigungskonzepte für Ältere und chronisch Kranke
- Gestaltung und Weiterentwicklung partizipativer Sozialbeziehungen im Betrieb; Mitarbeiterführung
- Nutzung von Informationen, Good-Practice-Beispielen, Instrumenten und weiteren Angeboten von Präventionskampagnen, z. B. im Rahmen der Arbeitsprogramme der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) (z. B. www.gda-bewegt.de) und der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA).
Körperliche Belastung und Berufskrankheiten
Die Bedeutung der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen körperlichen Belastungsarten, insbesondere der manuellen Handhabung von schweren Lasten in den verschiedenen Ausführungsformen, manuellen repetitiven Tätigkeiten und dem Arbeiten in Körperzwangshaltungen, spiegelt sich im Kapitel 21 der Liste der Berufskrankheiten (BK) der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) wider. So wurden mehrere Legaldefinitionen für Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems mit körperlichen Belastungen als besondere Einwirkung neu in die BK-Liste aufgenommen. Dies betrifft die BK-Nr. 2112 (Gonarthrose durch kniende Tätigkeiten), die BK-Nr. 2113 (Karpaltunnel-Syndrom durch repetitive Tätigkeiten), die BK-Nr. 2114 (Hypothenar-Hammer-Syndrom und Thenar-Hammer-Syndrom) sowie die BK-Nr. 2116 (Koxarthrose durch Lastenhandhabung). Die aktuell 16 Berufskrankheiten durch mechanische Einwirkungen nehmen einen bedeutenden Anteil im BK-Geschehen ein. Im Kalenderjahr 2020 gab es hier 10.310 BK-Anzeigen (ca. 10 % aller BK-Anzeigen), 1.298 BK-Anerkennungen (ca. 2,5 % aller BK-Anerkennungen) und 546 neue BK-Renten (ca. 11 % aller neuen Renten).
Der Ärztliche Sachverständigenbeirat (ÄSVB) beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) diskutiert auch für weitere eine Reihe weiterer arbeitsbedingter Muskel-Skelett-Erkrankungen die Empfehlung zur Aufnahme in die Liste der Berufskrankheiten.
Weitere Hinweise und Informationen zu den genannten Berufskrankheiten und zum Thema Berufskrankheiten finden Sie unter www.baua.de/berufskrankheiten.